Wenn Dinge Menschen ersetzen – das Messi-Syndrom

Jeder von uns kennt Beispiele von Wohnungen, die mit allerlei Dingen vollgepfropft sind. Da stapeln sich tausende Zeitschriften, Bücher und Papiere, da stehen überall Möbel, alle Flächen sind zugestellt mit Nippes, es gibt nur noch schmale Gänge, durch die man nur mit Mühe durchkommt. Nirgendwo kann man sitzen, stehen oder gar liegen. Oft beobachtet man das bei alten Menschen, die nur noch ein Zimmer in einem Altersheim haben und alleine mit ihren Erinnerungen leben. Doch es gibt auch junge und im Beruf erfolgreiche Menschen, die sammeln und horten. Meistens sagt man abfällig “Messi” und wendet sich ab. Das Messi-Syndrom ist aber keine nachlässige Faulheit oder schrullige Laune, sondern eine ernstzunehmende und belastende Erkrankung.

Was ist das “Messi-Syndrom”?

Das Wort "Messie" ist abgeleitet vom englischen Wort mess für Chaos, Unordnung oder Durcheinander. Populär wurde es durch die Amerikanerin Sandra Felton, die als Pionierin der Messi-Forschung gilt. Als Messie-Syndrom oder Desorganisationssyndrom wird eine Krankheit beschrieben, bei der die Betroffenen unfähig sind, Besitz aufzugeben oder nicht zu vermehren. Sie können sich nicht von Dingen trennen und häufen immer mehr davon an. Dadurch behindern sie immer mehr ihren eigenen Wohnbereich, verändern ihren Alltag und steuern in die soziale Isolation.

In ihrer Kernsymptomatik sind psychologisch ähnliche Syndrome:

  • Aufschieben (Prokrastination)
  • Kategorisierungs- und Ordnungsschwierigkeiten
  • Sammeln und Wertbeimessungsstörungen

Die Entdeckung der Krankheit

Das Messi-Syndrom wurde erst in den letzten Jahren durch Studien als eigene Erkrankung gewürdigt und wird erst in der neuen ICD-11-Klassifikation psychischer Störungen Eingang finden. Zu verdanken haben wir das unter anderem der jahrelangen intensiven therapeutischen und wissenschaftlichen Arbeit der Amerikanerin Sandra Felton und der Deutschen Veronika Schröter. Sie konnten zeigen, dass Komorbiditäten wie Sucht, Impulskontrollstörungen und depressive Episoden durchaus vorhanden sind, aber nicht ausschließlich das Krankheitsbild bestimmen. Wenn der Suchtanteil sehr hoch ist und sich in einem zwanghaften Kaufverhalten ausdrückt, spricht man auch vom pathologischen Horten.

Die “Welt der Dinge”

Der von Veronika Schröter geprägte Ausdruck “Welt der Dinge” umschreibt sehr schön, wie existenziell bedeutsam Dinge für die Betroffenen sind. Beispielsweise können die tausenden Zeitungen und Bücher Stellvertreter für Beziehungen sein. Ich komme nach Hause, und die vollgestellten Wände und Regale umfangen mich wie eine schützende Wand, sie beheimaten mich mit Dingen, die ich kenne. Und je mehr es werden, desto schützender legt sich der Kokon um mich. Der Wunsch nach unstillbarer Sicherheit kann auch aus einer frühen und tiefen Traumatisierung entstehen. Immer wieder wird versucht, sich ein echtes Zuhause als individuellen und intimen Ort zu erschaffen. Oft leiden die Betroffenen an einer starken inneren Verlorenheit und Leere. Die “Welt der Dinge” bietet nun die Schein-Sicherheit, mit der sie diese Leere überleben. Das Messi-Syndrom ist also auch eine Bewältigungsstrategie.

Die Hauptsymptome sind Kategorisierungs- und Ordnungsschwierigkeiten, sozialer Rückzug und Scham, Sammeln und Wertbeimessungsstörungen (nützlich - nicht nützlich, wertvoll - wertlos etc.). Im Vordergrund steht oft als signifikantes Merkmal eine ausgeprägte Entscheidungsunfähigkeit. Eine Priorisierung ist nicht möglich, der eigene Wille für Entscheidungen ist nicht oder nur rudimentär ausgebildet. Als Folge davon kann man auch von einer Selbstwertbeimessungsstörung sprechen.

Das sind die wichtigsten Ursachen:

  1. Zwangserfahrungen in der Kindheit wie eine penible Sauberkeitserziehung, sehr strenge Befolgung aufgestellter Regeln, die nur Befolgung oder Bestrafung kennen; die Betroffenen müssen sich, um psychisch und physisch zu überleben, dem System Elternhaus total unterordnen. Sehr klare Vorstellungen der Eltern vom Leben der Betroffenen, was sie zu tun und zu lassen haben, kann zu Loyalitätskonflikten und emotionalen und psychischen Überforderungen führen (bspw. durch oktroyierte Parentifizierung der Geschwister). Viele sehr autoritär aufgewachsene Betroffenen sind aufgrund ihrer Leidensfähigkeit (“Ich beiße mich durch…”) durchaus erfolgreich in ihrem Beruf. Das permanente Gefühl des Gezwungenseins kann plötzlich zu einer Auflehnung: “Ich mache gar nichts mehr…” führen.
  2. emotionale Verarmung, oder sich im Stich gelassen fühlen, beispielsweise durch längere Krankenhauserfahrungen und fehlende Besuche in der Kindheit (“Kommen Mama und Papa heute?”... Wieder nicht.), strenge und sehr frühe Internatsaufenthalte mit nicht adäquaten Besuchszeiten oder zu wenig Heimfahrtswochenenden, unzuverlässige Präsenz der Eltern (“Sie holen mich bestimmt ab” …. ach, sie kommen doch nicht.), auch zu beobachten bei Überforderung kinderreicher Familien (“Was ich mache, interessiert sowieso keinen…”), tiefstes Erleben, dass sich keiner um einen sorgt.
  3. Überbehütung, keine Ich-Entwicklung aus sich selbst heraus (alle wissen immer alles besser…), elterliches Helikopterphänomen kann zu Selbstzweifeln und inneren Blockaden führen, mangelnde Genuss- und Befriedigungsfähigkeit, (“Ich traue mir nichts zu…”)
  4. Verlusterleben, früher Tod naher Angehörigen, fehlende Trauerarbeit, (“Du bist zu klein für die Beerdigung, du bleibst zu Hause.”), wechselnde Partnerschaften der Elternteile, unsichere häusliche Systeme können zu Bindungsproblemen und tiefem, sozialem Misstrauen führen.

Was man tun kann

Für die Angehörigen von Betroffenen ist der Umgang sehr schwer. Denn in den verschiedenen Ausprägungen wie Horten, Verwahrlosung oder Vermüllung bringt das unweigerlich große Probleme mit sich. Auch heutzutage gilt oft noch die Hilfe beim Aufräumen und Ordnen als probater therapeutischer Ansatz, doch das täuscht. Denn so wichtig die “Welt der Dinge” für die Betroffenen als Schutz- und Trutzburg gegen den Unbill von draußen und als Identifikationssuche für das eigene Ich sind, desto traumatischer können sie “Hilfe” erleben. Meistens sind sie sich ihrer Krankheit voll bewusst und schämen sich dafür. Betroffene haben oft eine hohe Motivation, sich therapeutisch und auch praktisch helfen zu lassen, aber unter ihren Bedingungen und unter Wahrung ihres Bereiches. Wenn also der “Helfende” den schambesetzten intimen Bereich ungefragt betritt, erobert er unter Umständen individuellen Lebensraum. Viele dieser Menschen leiden unter unbefriedigten Sehnsüchten, die erst ergründet werden müssen. Und das geht in erster Linie nur sehr langsam. Hilfe sollte liebevoll mit der Geschwindigkeit der Betroffenen geschehen und deren Spielregeln einhalten.

Fazit

Das Messi-Syndrom ist eine ernsthafte und auf frühkindliche Traumatisierungen gegründete Erkrankung. Mit der um sich aufgebauten “Welt der Dinge” hat der Betroffene eine Bewältigungsstrategie entwickelt, um mit diesen tiefen und alten Wunden zu leben. Der Schutz erweist sich in seiner Verselbständigung jedoch auch als Fluch, weil er die Betroffenen autoaggressiv sozial abschottet und organisatorisch überfordert. Die emotionale Erkenntnis, dass eine Verletzung eine wesentliche Rolle bei der Entstehung des Syndroms spielt, ist also ein wichtiger inhaltlicher Ansatz einer möglichen Therapie. Der Betroffene begreift, dass sein Zuhause die Sichtbarkeit seiner Geschichte ist.

Und nun eine Frage an euch: Wie wohl fühlt ihr euch in eurer Wohnung? Könnt ihr jederzeit Besuch empfangen?


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