Warum wir zueinander passen – Eine kleine Ehegeschichte

Wir kennen es alle. Da begegnet uns ein Paar, ob jünger oder älter, wo sich weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick erschließt, was sie aneinander finden. Sie scheinen keinerlei Interessen zu teilen, Gemeinsamkeiten zu pflegen oder wenigsten die gleichen Freunde zu haben. Dennoch gibt es solche Paare, die jahrzehntelang zusammen sind und nicht den Anschein erwecken, besonders unglücklich zu sein. Und darum soll es heute mal gehen, um ein Ehepaar, das so gar nicht zusammenpasst.

Kleine Ehegeschichte

Horstrud und Emilius Knotenbrecher sind ein Ehepaar aus Castrop-Rauxel. Als der Ruhrpott noch qualmte, wurde ihnen ein kleines Häuschen mit den wenigen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen, gebaut. Nun wohnen sie schon über 50 Jahre dort. Die stinkenden Wolken sind verzogen, aus Kumpeln wurden Künstler und aus Zechen Galerien. Zumindest bei einigen. Horstrud hat gerne die Kontrolle. Sie mag es nicht, wenn plötzlich Unwägbarkeiten auftreten oder sie nicht weiß, was sie erwartet. Emilius hingegen liebt das Außergewöhnliche, das Spontane und das Neue. Logisch, dass er eher weniger zum Zuge kommt, dafür sorgt seit 50 Jahren Ehe Horstrud. Emilius ist Koch. Er liebt Lebensmittel, deren Verwandlung zu einem kunstvollem Essen, den Duft von Braten, Sud und Röstaromen. Er genießt es einfach, hier und jetzt etwas zuzubereiten, wo andere glücklich werden, allen voran er selbst. Horstrud hingegen scheint irdischen Genüssen eher abgeneigt zu sein. Als ehemalige Postangestellte ist sie von höchst pragmatischer Natur, manche würden sie als prosaisch bezeichnen. Die Kochkunst Emilius' ist für sie Firlefanz, Genuss vermeidbarer Luxus und Glück eine pubertäre Torheit. Und dennoch sind die beiden seit über fünfzig Jahren verheiratet, und sie sehen nicht so aus, als ob sie unglücklich miteinander wären. Doch wie arrangiert man sich in einer Lebensgemeinschaft, die zwar essenzielle Unterschiede aufweist, aber scheinbar wenig Gemeinsamkeiten kennt?

Dazu müssen wir mal in die Zeit schauen, wo Emilius nach Deutschland kam und Horstrud kennenlernte. Das war zu einer Zeit, wo in Deutschland großer Aufbauwille herrschte, aber dafür auch viele Arbeiter vonnöten waren. Emilius, ein Bauernsohn aus den italienischen Marken, hatte es satt, in einem kleinen, verwinkelten und sehr alten Haus zu wohnen und sich mit all seinen Geschwistern einen Raum zu teilen. Immer hatte er Rücksicht zu nehmen oder auf seine Schwestern aufzupassen. Sein Vater, der aus Gründen seiner bis wenige Jahre zuvor sehr angesehenen politischen Ansichten, jetzt stellungslos war und auch wenig Aussicht hatte, je wieder Arbeit zu finden, beherrschte die Familie. Er war immer da, wusste alles besser und schien sich im Befehlen und Bevormunden zu gefallen. Emilius war ein besonders geeignetes Objekt für Kritik, entsprach er doch nur wenig den Vorstellungen seines dominanten Vaters. Er war nicht sehr ordentlich, schulisch eher schwach, kam oft zu spät, weinte schnell, wenn der Vater ihn maßregelte und hielt sich lieber bei den Musikern und Malern des Ortes auf als auf dem Fußballplatz. Das war so klischeehaft, dass der Vater ernstlich erwog, ihn in eine Ganztagesanstalt zu stecken, die durch Drill und gesunde männliche Erziehung seine Flausen austreiben sollte. Die Mutter sagte nichts, sie sagte nie etwas, sie litt leise, aber litt es, dass sie litt. Mit 17 Jahren verschwand Emilius aus seinem Dorf und kam nie wieder. Seine Geschwister taten es ihm gleich, so dass sie sich nach und nach alle im Ruhrpott sammelten.

Horstrud entstammte aus ganz ähnlichen Verhältnissen. Auch ihr Vater tat sich mit den nach dem Krieg geänderten politischen Verhältnissen schwer und wurde arbeitslos. Als Jurist und Richter entsprach seine neue Arbeitslosigkeit nicht dem eigenen Anspruch an ein Oberhaupt einer Familie. Also tyrannisierte er sie, indem er immer da war, alles besser wusste und sich ebenfalls im Befehlen und Bevormunden zu gefallen schien. Auch Horstrud war die älteste aller Kinder und musste sowohl Vorbild als auch Dienstbote ihrer jüngeren Geschwister sein. Sie interessierte sich zwar sehr für Sport, aber sie hatte stundenlang zu Hause zu sitzen, um zu stopfen, zu nähen, Wäsche zu machen, zu putzen und sonstige Haushaltsdinge auszuführen. Außer an wenigen Tagen im Jahr war Horstrud so immer daheim und durfte erst mit 16 Jahren, nach langem Betteln, eine Ausbildung zur Briefträgerin machen. Denn als Briefträger kam sie rum, sie musste nicht mehr zu Hause sein, sondern konnte sich bewegen, von Haus zu Haus gehen und sogar entfernte Gehöfte mit dem Fahrrad anfahren. Horstrud war ein verschlossenes Kind und wuchs zu einer spröden Schönen heran, der man nicht nachpfiff oder heimliche Liebesbriefe schrieb. Ihre pragmatische, unemotionale Art stieß die Gleichaltrigen ab. In der Nachbarschaft galt sie zwar als reizlos, aber als sehr zuverlässig und ehrlich.

Horstrud lernte Emilius durch ihren Beruf kennen. Er wohnte damals noch in so einer Art Wohnheim für Gastarbeiter und bekam regelmäßig Post von seinen Geschwistern aus Italien. Das war in der Gegend ungewöhnlich. Horstrud wusste genau, wer Emilius war. Er wiederum war unglücklich über seine Einsamkeit. Seine deutschen Kollegen mieden ihn, die anderen Gastarbeiter hatten deutlich andere Interessen. Oft war er allein und litt an Heimweh. Die Briefe seiner Schwestern waren die schönsten Momente seiner Tage. Und diese Momente verschaffte ihm immer Horstrud. So lernten sie sich kennen…

Und nun, nach 50 Jahren, fragen sich viele Menschen in der Nachbarschaft, wie der alte, kleine und quicklebendige Italiener mit der tumben, wortkargen und mürrisch dreinblickenden Deutschen verheiratet sein kann. Doch niemand fragt sie mal, was sie alles gemeinsam erlebt haben und wie viele schöne Stunden und Momente sie hatten.

Fazit

Manchmal muss man eben in die Geschichte schauen, um die Gegenwart zu verstehen.



Bitte beachtet auch meine Schwerpunktseite: www.musikerberatung-frieling.de.

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