Verletzlichkeit macht stark

Fast täglich kennen wir folgendes Kurzgespräch: “Wie geht es dir?” Meistens lautet die Antwort darauf: “Ganz gut und selbst?” “Danke, alles prima.” Man freut sich, geht auseinander und denkt manchmal: ‘Wenn der wüsste…’ In Großbritannien antwortet man auf das sehr konservative britische Englisch: "How do you do?" seltsamerweise mit "How do you do?", es gilt als Begrüßung. Aber auch das jugendlich geprägte: “Was geht, Digga?”, ist eine formelhafte Frage und braucht keine wirkliche Antwort. Wo man auch hinguckt, das Begrüßungsritual beinhaltet oft die Frage nach dem Befinden des anderen, aber fast niemals erwartet man eine ehrliche Antwort darauf. Warum eigentlich?

Offenheit als Hürde

In meiner Ausbildung erlebte ich immer wieder, wie Dozenten vor einem Seminar uns fragten, wie es uns ginge und ob wir heute arbeitsfähig seien. Ich sagte natürlich immer: “Ja, prima, selbstverständlich, mir geht es bestens…”. Andere kamen ins Reden über irgendwelche Wehwehchen, manche weinten gar. Das fand ich alles sehr albern und verstand nicht, warum sie dann überhaupt kamen. Mit der Zeit aber bemerkte ich bei mir, dass ich auch etwas sagen wollte, und sei es nur, dass ich traurig sei, bei diesem Wetter hier drinnen sitzen zu müssen. Tja, und plötzlich wandelte sich so der Stuhlkreis des Fremdschämens in einen sicheren Ort des Austauschs von Gefühlen. Nach und nach verstand ich, warum es eben wichtig und gut sein kann, sich anderen gegenüber zu öffnen.

Und das betrifft viele Bereiche des Lebens. Immer wieder liest man erstaunt, wieviele Stars mit den dunklen Seiten ihrer Seele zu kämpfen haben. Da geht es oft um Angst, um Depression, um Erwartungsdruck, um Panikattacken. Und oft liest man, nachdem der Blätterwald reißerisch die Depression von Star xy publik gemacht hat, dass es geholfen habe, das einmal gesagt zu haben.

Aus Angst optimistisch

In einer seltsamen Diametralität stehen sich in unserer Gesellschaft Meckerkultur und Positivismus gegenüber. Bei uns in Thüringen habe ich oft den Eindruck, dass hier das Meckern erfunden wurde. Allein schon der bellende dialektale Tonfall impliziert Beschwerde und Unzufriedenheit. Demgegenüber gibt es das fast zwanghafte Diktum des Optimismus’. Man fokussiert sich auf das Positive und verdrängt negative Gefühle. “Ach, alles halb so schlimm, das wird wieder. Wer weiß, wofür es gut ist, Schwamm drüber, denk nicht mehr dran, guck nach vorn…” Und so weiter. Das sind ja alles keine falschen oder schlechten Sätze, aber wie bei allem macht die Dosis das Gift. Und was steht oft dahinter? Meckern ist oft regressiv, ‘ein Anderer ist schuld…” und Positivismus grenzt oft an Durchhalteparolen und verdrängt aus Angst Unsicherheit, Zweifel und Resignation.

Gefühle sind weder gut noch böse

Emotionen sind an sich nicht schlecht oder gut, sie liefern uns “nur” Informationen über unseren psychischen und auch physischen Zustand. Das heißt, man sollte sie als erstes in ihrer Gesamtheit bemerken und nicht in gut oder schlecht selektieren. Die beurteilungsfreie Wahrnehmung seines eigenen Empfindens ist dabei der erste Schritt. Wir kennen alle das Phänomen, Glück teilen zu wollen. Man erzählt gerne, wenn man verliebt ist und sich für etwas begeistert. Doch auch andere starke Emotionen wie Wut oder Angst brauchen ihren Kanal. Im Arbeitsalltag ist es aber eher gefragt, gleichmäßig zu agieren, also emotional verlässlich zu sein, keine “Macken” zu haben oder “launisch” zu sein. Daher werden sowohl sehr positive als auch negative Gefühle unterdrückt und als Privatsache behandelt, die keinen etwas angehen oder nur indirekt gezeigt werden. Alles was zu Tränen, Kummer oder Verzweiflung führt, alles was laut, seltsam oder schmonzettig wirkt, gilt meistens als Schwäche und wird als Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit angesehen. Die Emotionalität gilt also als Unsicherheitsfaktor. Das Ergebnis ist, dass eine Verarmung der eigenen bunten Gefühlswelt einsetzt und nur noch Extreme wahrgenommen werden.

Wahrnehmung schult Mitgefühl

Laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (dgppn) leiden fast 28% aller Deutschen unter psychischen Problemen wie Angststörungen (15,4%), Depressionen (8,2%), Medikamenten- und Alkoholmissbrauch (5,7%) und Zwangsstörungen (3,6%). Stand: Oktober 2020! Viele Menschen fühlen sich einsam, ungeliebt und unverstanden. Eine Folge davon ist neben den oben erwähnten persönlichen Auswirkungen aber auch die Verarmung der Empathiefähigkeit. Unterdrücke ich meine Gefühle, negiere ich meine Wahrnehmungen und ignoriere ich emotionale Reaktionen, so werde ich aller Wahrscheinlichkeit nach auch dieselben bei anderen ignorieren, negieren oder irgendwann noch nicht einmal mehr wahrnehmen. Ein anderer Punkt ist, dass es durch einen fehlenden Austausch von Gefühlen zu einem emotionalen “Gulasch” kommt. Alles kocht und wabert in einem bunt umher und führt dazu, dass man immer nur noch um sich selbst kreist und andere nur noch schemenhaft wahrnimmt.

4 Punkte für mehr emotionale Transparenz

1. Schäme dich nicht deiner Gefühle und nimm sie wahr.

Wir sollten neugierig werden, was unser Körper uns alles mitteilen kann, welche Vielzahl von Nuancen es dabei gibt und welche Auslöser es dafür gibt.

2. Werte deine Gefühle nicht.

Sie sind nicht “großartig”, “lieb”, “schlecht” oder “verkommen” etc. Sie sind einfach nur da und vermitteln einen Zustand, den es lohnt, näher zu betrachten, woher er kommt, welche Lösung er anstrebt und welches Ziel er hat.

3. Erzähle anderen davon. Verallgemeinere nicht. Differenziere so gut es geht.

Gleichzeitig zur eigenen Wahrnehmung kann ein Austausch mit Mitmenschen dazu führen, die Gefühlssituationen anderer besser zu erkennen und darauf spezifischer einzugehen. Es geht eben nicht darum, “sein Herz auf der Zunge” zu tragen und gemeinsam beim Käffchen über sein hartes Schicksal zu klagen, sondern darum, Zwischentöne zu hören, sie anzusprechen und dadurch die Kommunikation zu verbessern. Man fühlt sich einfach wohler, wenn man sich verstanden fühlt.

4. Höre zu und enthalte dich “schlauer” Ratschläge, wenn du nicht gefragt wirst.

Um sich selbst in seiner Wahrnehmung zu stärken, ist es ratsam, zuzuhören. Denn oft ist es wichtiger, bei jemandem zu sein als ihm Ratschläge zu erteilen. Um das Zuhören aktiv zu gestalten, kann man Fragen stellen. Und das wiederum kann man sogar bei sich selbst anfangen zu üben. Wichtig dabei erscheint mir aber, sich eines Urteils zu enthalten und sehr bewusst nachzuspüren, ob tradierte Glaubenssätze bereits Vorverurteilungen abgeben. Jede noch so ähnliche Situation wird von jedem Menschen als einmalig empfunden. Daher sind Verallgemeinerungen oder Anweisungen nicht sehr ratsam.

Fazit

Sich seinen Gefühlen bewusst zu werden und sie auch anderen zuzugestehen und wertungsfrei wahrzunehmen, dient einem besseren Verständnis für das Verhalten anderer. Das wiederum kann zu mehr Achtung und Interesse führen. Also Gefühle zuzulassen, sich ihrer bewusst zu werden und sie als Bestandteil seines eigenen Seins zu akzeptieren, erhöht nicht nur die Resilienz gegenüber Stress, Belastung, Kummer und schwierigen Situationen, sondern schult auch Menschenkenntnis und Empathie. Und das wiederum kann oft der berühmte doppelte Boden sein, den man dringend braucht, wenn es einem nicht gut sehen sollte.



Bitte beachten Sie auch meine Schwerpunktseite: www.musikerberatung-frieling.de.

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