Sinn und Leid – Frankls logotherapeutischer Ansatz

Manchmal fragen wir uns, was das “alles für einen Sinn hat”. Und damit meinen wir nicht nur sinnlos anmutende Ampelschaltungen oder Formblätter, sondern meinen unser Leben. Ganz einfach, ganz existenziell. Warum leben wir hier? Welchen Sinn hat unser Leben, wenn alles den Bach runtergeht? Das Thema “Lebenssinn” ist natürlich ohne den Namen Frankls zu nennen, nicht denkbar. Viktor Frankl ist der Begründer der Existenzanalyse und Logotherapie. (Das hat nichts mit Logopädie zu tun.) In seinem Buch: “… trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager”, geht er auf diese vielleicht wichtigste menschliche Frage ein: Welchen Sinn hat mein Leben?

Leiden ist Realismus

Die Erlebnisse im KZ waren prägend für sein späteres Leben und die Entwicklung der Logotherapie. Frankl bezeichnete das Überleben im KZ als “unverdiente Gnade”, die aufgrund eines “bloßen Zufalls” über Sein oder Nichtsein entscheidet. Leid ist durch nichts schön zu reden. Umdeutungen sind nicht möglich. Leid muss anerkannt werden als das, was es ist, nämlich Leiden. Worum es aber Frankl immer wieder geht, ist die grundlegende Frage, ob ein Leben überhaupt lebenswert sein kann, trotz Leid, Schuld und Tod. Denn erst, wenn auch das Sterben einen Sinn hat, hat auch das Überleben einen Sinn. Und nur ein “sinnvolles Leben ist es wert, erlebt zu werden”. Sinn und Leid gehören demzufolge zusammen. Leiden ist, so Frankl, keine Sondersituation, sondern ein Normalfall. Nicht die Negation von Leid, sondern die Anerkennung, Integration und Überwindung ergibt den realitätsnahen Sinn als Teil des Lebens.

Frankl sagt daher folgendes: “Wenn das Leben trotz des Leides sinnvoll ist, lohnt es sich zu leben.” Der Sinnaufruf im Augenblick liegt also nicht nur im Ertragen, sondern in der Überwindung. Wenn also Leid als “Normalfall der menschlichen Existenz” angesehen werden kann, so müssen Coping- und Resilienz-Modelle darauf aufbauen. (Als Coping-Strategien bezeichnet man individuumübergreifende Muster, um Stress zu vermeiden. Sie sind je nach Stressor unterschiedlich und haben eine eher kurzzeitige Wirkung.) Dieser “Realismus” ist also auch die Basis für helfende Berufe.

Leiden ist Ressource

Die Logotherapie versteht sich daher auch als eine diesen Realismus akzeptierende Therapieart, die das Leid aus dem Leben nicht zu verdrängen oder herauszuheben versucht, sondern vielmehr das Gute, Wertvolle und die Integration des Leides sucht und sieht. Da sich Sinn oft erst durch Leid zeigt und die heute als “Resilienz” bezeichnete Widerstandskraft sie zu überwinden trachtet, spricht Frankl in diesem Zusammenhang auch oft von der ”Trotzmacht des Geistes”. Denn das Leid ist für ihn nicht notwendigerweise ein Synonym für Verzweiflung. Allein die Erkenntnis, dass das Schicksal noch gestaltbar ist, kann Leid zur Ressource einer Erfahrung machen. Martin Heidegger meint dazu: “So lange der Mensch existiert, geschieht Metaphysik.” Das heißt, dass Leid damit weder weniger schlimm, schrecklich oder furchtbar ist, sondern es bekommt einfach nur eine metaphysische Komponente, die ihre “Wirkkraft” erst wesentlich später zeigt.

Die Suche nach dem Sinn

Für Frankl war diese Thematik deswegen so elementar, da er grundsätzlich erkannte, dass alle “Heilung [einen] Sinn braucht”. Diese Erkenntnis wurde auch ein Grundsatz für die Logotherapie. Was so lapidar und etwas vage klingt, gewinnt an Kontur, wenn man sich bisherige Grundsätze betrachtet. Menschliche Verfehlungen wurden im, von Frankl oft kritisierten, Pathologismus als “Verfehlungen der menschlichen Seele” gewertet, statt sie, wie Frankl immer wieder betonte, als “Verfehlung menschlicher Reife” zu sehen. Selbst Freud äußerte sich in einem Brief an Marie Bonaparte wie folgt: “Wenn man nach Sinn und Wert des Lebens fragt, ist man krank, denn beides gibt es ja objektiverweise nicht. Man hat nur eingestanden, dass man einen Vorrat an unbefriedigter Libido hat.” Doch im Gegensatz dazu meint Frankl, dass die Sorge um einen Sinn im Leben und die Suche danach eben nicht das Abnormale, der Komplex, die psychische Deformation, sondern das Normale, das Gesunde, das Urmenschliche sei. Der Zweifel am Sinn, das Ringen um die Sinnfrage hat also keinen Krankheitswert, sondern “muss entneurotisiert werden”. Die Sinnsuche ist kein zu korrigierendes Syndrom, sondern ein wertvolles Heilmittel, welches motiviert werden muss. Es liegt also im Wesen des Menschen, dass er nach Sinn fragt, dass er Sinn sucht und dass er sich vor diese Frage gestellt sieht. Und C. G. Jung, den Frankl sehr schätzte, sagt: “Sinn macht vieles, vielleicht alles ertragbar.” 

Die Dynamik der Sinnfrage

Aber Frankl macht auch klar, dass es von außen betrachtet überhaupt gar keinen Sinn gibt. Denn materialistisch betrachtet ist das gesamte menschliche Leben nur ein Oxidationsprozess endlicher Dauer. Das Wesen des Sinns zeigt sich individuell. Es gibt demzufolge nicht eine Beantwortung, sondern nur ein prozesshaftes Ringen in Situationen, wo man in irgendeiner Form leidet, mit sich im Unreinen ist oder etwas anzweifelt. Dann stellt man die Sinnfrage. Aber geht es einem gut, ist man glücklich, zufrieden und jung, so steht sie gar nicht, sie transzendiert sich durch den Glauben an die eigene Selbstwirksamkeit als Sinn. Wendet sich das Blatt, wird das Hadern mit dem eigentlichen Sinn wieder größer bis zum Zweifel und zur Abkehr vom Glauben. Diese Dynamik zwischen nicht gestellter Sinnfrage und Glück und gestellter Sinnfrage und Leiden ist für Frankl eine wertvolle Ressource für die Logotherapie, da es die Motivation zur Überwindung in sich trägt. Der explizit vermeintliche Sinn hat sich hingegen nicht geändert, da er keine normative Qualität hat, sondern nur eine subjektive und sich permanent verändernde Bedeutung bekommt.

Sinn und Resilienz

Wie schon in dem kleinen Exkurs über Resilienzübungen (Resilienz – Wenn wir uns gegen außen schützen) angedeutet, ist sie nicht Selbstzweck oder das Ziel an sich, sondern ein Nebenprodukt einer bedingungslosen Sinnoffenheit. Verschiedene Resilienzvariablen zeigen die indifferenten Zusammenhänge zwischen der Widerstandsfähigkeit des Individuums an sich und dem Erleben auf dem Zeitstrahl seines Lebens. Resilienz ist also kein “permanentes Schutzschild”, sondern ein Prozess, eine psychische Dynamik des situativen Auseinandersetzens mit immer wieder neuen Anforderungen. Und die Motivation mit dieser Auseinandersetzung ist eben die Sinnoffenheit, also das Verständnis, das Vertrauen und den Glauben daran, dass diese einen Sinn hat. Diese protektiven Faktoren sind eingebettet in existenzpsychologische Modelle. Laut Viktor Frankl ist diese Erkenntnis auch elementar in ihrer Bedeutung für die Heilmotivation der verschiedenen psychologischen Verfahren. Er vergleicht die Ansätze von Freud mit denen Adlers und kommt zu folgendem Resümee: “Die Psychoanalyse will den Menschen an die Wirklichkeit anpassen, die Individualpsychologie möchte diese Wirklichkeit nach dem Menschen gestalten. Der wesentliche Schritt über Gestaltung und Anpassung hinaus ist aber die Verantwortung für eine Sinnfindung, was man machen sollte und muss. Vor wem und wofür muss man verantwortlich sein?”

Daher empfiehlt er seinen Therapeuten, immer auch ein “weltanschauliches Gespräch” zu führen. Dieses dient natürlich nicht dazu, eine bestimmte Weltanschauung zu propagieren, sondern dem Patienten dazu zu verhelfen, dass er sich bewusst macht, Weltanschauung zu besitzen. Diese Weltanschauung ist die Haltung zu äußeren Dingen, zu Werten, zur Umwelt , sprich: Sie ist das, was man für richtig und wichtig hält. Und das ist eben ein Gradmesser, an dem sich im Zweifel oder im Leid die Sinnfrage auftut. Das heißt nicht, dass damit Glaubenssätze, psychodynamische Prozesse, Abwehrreaktionen, also alle unsere Schatten irrelevant werden oder sich stets der Sinnfrage unterordnen müssen, sondern das heißt, dass die Sinnfrage immer in Relevanz zur eigenen Weltanschauung gestellt wird. Diese wiederum speist sich aber aus den verschiedensten Quellen, unter anderem aus den oben genannten Schatten.

Fazit

Die therapeutische Qualität dieser sehr ursächlichen und philosophischen Frage nach dem Sinn ist eminent. Denn im Gegensatz zu scherenschnitthaften Resilienzrezepten führt sie einen weiter. Sie hinterfragt letztendlich die Motivation hinter dem Ziel. Gleichzeitig aber zeigt sie uns auch einen intrinsischen Lebenswillen, der wiederum als Ressource für die Überwindung von Leid sein kann. Frankl rückt die Sinnfrage weg von einer Störung oder einer Neurose. Vielmehr sieht er sie als urmenschliche Frage in Zeiten des Zweifels und des Leids. Die Dringlichkeit der Frage zeigt das seelische Leiden an der vermeintlichen Sinnlosigkeit. Andererseits erfährt sie genau in dieser Dringlichkeit den eigentlichen Sinn, nämlich die Motivation der Überwindung dieses Leidens.


Bitte beachtet auch meine Schwerpunktseite: www.musikerberatung-frieling.de.

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