Psychische Herausforderungen Studierender

Das Trennungs- und Autonomiebedürfnis spätadoleszenter Jugendlicher und deren Herausforderung im Studienalltag

Jede Änderung des Gewohnten birgt eine Menge an Chancen aber eben auch Gefahren in sich. Studierende, die von der heimatlichen Schule und dem elterlichen Zuhause ausziehen und in eine neue Stadt gehen, um dort ein selbstgewähltes Studium zu beginnen, ändern ihr bisheriges Leben radikal. Statt der Schule gibt es nun die Uni, statt der Eltern die Professoren, statt der Klassenkameraden die Kommilitonen. Doch damit nicht genug, an die Stelle des vertrauten Zuhauses tritt die WG, das Wohnheim oder eine eigene Wohnung.

Verschiedene Untersuchungen und Beobachtungen (nicht nur in den letzten Jahren, sondern erstaunlicherweise auch schon seit mehr als einem Jahrhundert) haben gezeigt, dass psychische Auffälligkeiten und Probleme bei Studierenden kein Einzelfall, sondern eher die Regel darstellen. Das soll natürlich nicht bedeuten, dass alle Studierenden “bekloppt” sind, sondern dass ein Viertel von ihnen im Verlauf ihres Studiums mit psychischen Themata zu tun haben und dadurch Beeinträchtigungen erfahren wie:

  • Leistungsstörungen
  • Selbstwertprobleme
  • depressive Verstimmungen
  • Labilität / Stimmungsschwankungen
  • Prüfungsängste
  • Prokrastination

Die meisten Studierenden von heute sind zwischen 18 und 26 Jahre alt und befinden sich daher auf einer vergleichbaren Entwicklungsstufe, der Adoleszenz und Spätadoleszenz. Sie umschließt die Entwicklung vom Jugend- zum Erwachsenenalter und das Erlernen der elternunabhängigen Selbständigkeit und Verantwortung für sich und andere. Dieses Verlassen von alltagsprägenden Bindungen wie Elternhaus, Schule und Nachbarschaft ist anspruchsvoll und kann Ängste und Unsicherheiten hervorrufen. Das Eingehen neuer Verbindlichkeiten wie in der Peergroup (soziale Bezugsgruppe) der Kommilitonen und, bei Hauptfachstudierenden in der Musik ganz besonders, in der Akzeptanz neuer Führungsfiguren wie den Hauptfachlehrer, bestimmen die neue Lebensphase. Man wählt neue Freunde, geht Liebesbeziehungen ein, verwaltet einen eigenen Haushalt (und sei es nur ein Zimmer in einer WG und die gemeinsam genutzte Küche) und kommt aus einer verschulten und determinierten Welt der Heimat in eine frei gewählte und neu zu strukturierende Welt des Studiums mit seinem Lehrangebot, neuen Alltagsaufgaben und anderen Sozialstrukturen. Diese ganzen Aufgaben an Anpassung und Neuausrichtung kann auch als spätadoleszente Krise verschiedener Integrationsanforderungen bezeichnet werden, weil neben den oben erwähnten Aufgabenstellungen auch die Persönlichkeit konsolidiert, die Identität stabilisiert und die Selbstrepräsentanz integriert werden muss. Krisen können als Lebensereignisse aufgefasst werden, die so elementar in das bisherige System eingreifen, dass eine Restrukturierung unumgänglich ist. Schlicht und ergreifend heißt das, man wird erwachsen. Der eigene Status ändert sich vom Schüler zum Studenten. Der allgemein verpflichtende Schulalltag weicht dem selbstverantwortlichen Studium. Doch die rechtliche Mündigkeit widerspricht oft der existenziellen Abhängigkeit vom Elternhaus.

Bisherige infantile Identifizierungen, Traum- und Wertvorstellungen werden geprüft und abgewogen, angepasst oder erneuert. Realistische Grenzen werden weitgehend akzeptiert und anerkannt. Die Erfahrungen durch die Implementierung in ein bisher unbekanntes System und durch die ohne Historizität der eigenen Biographie konnotierten Kommunikation lassen die Grandiosität seines eigenen Seins nach und nach verblassen und weichen einer durch reale Erfahrungen und Erfolge gespeisten inneren Ambivalenz zwischen Fremd- und Eigenwahrnehmungen seiner Selbst. Gerade dieser Prozess birgt vielerlei psychische Herausforderungen, die neurotische Konflikte und andere psychopathologische Phänomene zum Ausbruch bringen können. Diese Phase der Spätadoleszenz ist daher oft ein einschneidender biographischer Wegepunkt für die freiheitliche Entfaltung oder Erkrankung von Persönlichkeitsentwicklungen.

Auffälligkeiten und deren psychische Aufgabenstellung:

  1. Vernachlässigung und Entwertung eigener Ressourcen als Folge von Entbindungsgeschehen
  2. Prüfungsangst als Angst vor Verantwortung, Wohnortwechsel und ungenutzten Möglichkeiten im Studium
  3. Frustrationen durch virulentes Autonomiebestreben und Autoritätskonflikten
  4. ungenutzter Spielraum des Studierens durch unklare und angstmachende Verbindlichkeiten späteren Berufslebens
  5. Erfahrung mit produktiven und kreativen Prozessen, die ein gewisses Maß an Verstimmung und sozialem Rückzug erforderlich machen
  6. persönliche Krisen durch unbearbeitete Entwicklungsanforderungen
  7. kritische Auseinandersetzung mit verleugneten Aspekten der Eltern
  8. Verarbeitung der Traueraffekte durch den Verlust der alten Bindungen von Familie und heimatlich sozialem Umfeld

Ein wichtiger Aspekt bei der Transformation von einem fremdbestimmten in den selbstregulierten Alltag ist die Erlernung eines eigenen Arbeitsstils. Ein häufiges Phänomen ist das angstbesetzte Schweigen gegenüber unklaren Studieninhalten und der Abgleichung zwischen Studienziel und Studienanforderungen aufgrund der als eklatant wahrgenommenen Defizite in der Selbst-, und zusätzlich bei Musikstudierenden, Übeorganisation. Dieses Schweigen steht aber im krassen Gegensatz zum Ideal der kommunikativen Diskussionskultur eines mündigen Studierenden. Typische Belastungen wie fehlende Liebesbeziehungen und unvorteilhafte Wohnsituationen können die Entwicklung eines gesunden Selbstwerts erschweren. Wichtige Ressourcen, wie eine stabile soziale Bezugsgruppe (Peergroup) können die erhöhte Vulnerabilität der Spätadoleszenz schützen.

Welche Bedingungen erleichtern den spätadoleszenten Individuationsprozess der Studierenden?

  1. die Schaffung von klar kommunizierten und einfach zu verstehenden Studienbedingungen
  2. Vermeidung zu hoher Stundenzahlen als skaliertes Phänomen Bologna-Prozess-basierter Creditpoints.
  3. Förderungen des Tutoratswesens und Studienbegleitung von Studieneinsteigern durch ältere Semster
  4. Vermittlung von fachübergreifenden Kompetenzen (Wie übe ich richtig? Wie schreibe ich eine wissenschaftliche Arbeit? etc.)
  5. begleitende gesundheitsfördernde Angebote wie Musik (Chor, Orchester), psychosoziale Kurse, Hochschulsport, Yoga, Pilates oder Alexandertechnik
  6. Informationsausbau an Schulen zu einzelnen Studienfächern, aber auch zu Lern- und Übekultur, Kommunikation zu den Erwartungen an Selbstmanagement und Studienplanung
  7. individuelle psychologische Beratungsangebote für Studierende
  8. klare Kommunikation der Kompetenzen innerhalb der Universität / Hochschule
  9. Stärkung der persönlichen Ressourcen durch Feedbackrunden der Lehrenden
  10. Stärkung der sozialen Ressourcen durch interdisziplinäre Veranstaltungen und Seminare
  11. Weiterbildungsangebote für Lehrende in Bezug auf die Besonderheit spätadoleszenter Aufgabenstellungen der Studierenden

Fazit

Das Studium ist nicht nur ein beliebiger Ausbildungsweg, sondern auch eine prägende Lebenszeit. Eine neue Stadt, eine neue Peergroup und die neue Selbständigkeit stellen Ansprüche, die weit über die reinen Ausbildungsinhalte hinausgehen. Um die Entwicklung der Studierenden zu unterstützen und dadurch auch gute Studienabschlüsse zu erreichen, ist ein deutlich breiteres Angebot, was Studienbedingung und -betreuung betrifft, notwendig als bisher oft umgesetzt. Gleichermaßen ist eine transparente Studienplanung mit genügend Zeit zum Selbststudium wichtig, um Studierenden die entscheidenden Erfahrungen in der Selbstorganisation zu geben. In der Adoleszenz ist man besonders vulnerabel, oft können hier die Weichen zu einer schweren psychischen Erkrankung gestellt werden. Alle die mit Studierenden arbeiten, sollten sich dieser Verantwortlichkeit sehr bewusst sein.


Bitte beachten Sie auch meine Schwerpunktseite: www.musikerberatung-frieling.de.

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