Perfektionismus - die Sucht des Unerreichbaren

Wenn man sich mit Menschen unterhält, kommt es oft zum Thema Perfektionismus. Viele sprechen gar von ihrem “Perfektionswahn”. Und meistens steckt dahinter ein sehr hoher Anspruch an die Qualität der Arbeit, und zwar sowohl bei sich als auch bei anderen. Manchmal jedoch kommt es dadurch zu beträchtlichen Behinderungen und Verzögerungen. Und das ist bei weitem kein Einzelfall. Warum reicht es manchen Menschen nicht aus, einfach nur gut zu sein, warum wirken sie wie getrieben und zwanghaft gewissenhaft?

Perfektionismus vs. Gewissenhaftigkeit

Perfektionismus ist ein typisches Phänomen von Menschen, die sich selbst sehr anspruchsvolle Ziele setzen, oft mit sich unzufrieden sind und auch nur schwer mit anderen gemeinsam arbeiten können. Ihr selbst gesetzter Leistungsstandard ist nicht nur hoch, sondern wird permanent hinterfragt. Das Ergebnis der Arbeit ist elementar für das Selbstbild. Perfektionisten transportieren ihren Anspruch aber auch auf andere und beurteilen auch hier den Menschen nach seiner Leistung. Sehr oft liegt einen anankastische (zwanghafte) Persönlichkeitsstruktur zugrunde. Diese Persönlichkeitsakzentuierung führt dazu, dass Perfektionismus nicht automatisch zu einer hohen Gewissenhaftigkeit führen muss. Die eigenen Dämonen sind oft stärker als die Verantwortlichkeit für ein sinnvolles Ergebnis. Sprich: Verzetteln kann auch eine Folge von Perfektionismus sein.

Beispiel Bachelorarbeit

Eine Musikstudentin muss ihre Bachelorarbeit schreiben. Ihr selbstgewähltes Thema dreht sich im weitesten Sinne um die Zweite Wiener Schule (Zwölftontechnik, Schönberg und co.) Sie recherchiert und kommt von Stöckchen auf Hölzchen. Immer tiefer steigt sie in die Materie ein, sie beschäftigt sich mittlerweile mit den philosophischen Strömungen dieser Zeit (Adorno und Horkheimer), findet Briefe in irgendwelchen Archiven, die Kritiken von Aufführungen Schönbergs enthalten und so weiter. Die Wochen vergehen, die Bücher und Artikel häufen sich. Aber das wesentliche, ihre Bachelorarbeit liegt brach. Hier führt der Perfektionismus eben nicht zu einem sinnvollen Ziel, ja, noch nicht einmal zu einer promotionsreifen Arbeit. Hier führt er zu einem völligen Chaos, woran die Studentin zu zerbrechen droht.

Woran erkenne ich Perfektionismus?

  1. Die Organisation von Aufgaben, ToDo-Listen, die Ausgestaltung der einzelnen Farben der Spalten bis hin zu Schriftarten und Abständen nehmen mehr Raum ein als der eigentliche Inhalt.
  2. Immer öfter verzögert sich die Fertigstellung der Aufgaben. Man hat Schwierigkeiten Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Oft dominieren äußerliche Detailverbesserungen.
  3. Die Worte “Effizienz” und “Produktivität” kommen oft im Wortschatz vor. Sie sind sehr wichtig. Freizeit ist eher sinnlose Zeitverschwendung. Wenn man schon ein Buch liest, dann ein Sachbuch, wenn Fernsehen, dann Dokumentationen.
  4. Die hohen Ansprüche an sich und andere zeigen sich auch in sozialen Fragen. Moral, Ethik und gesellschaftliche Normen haben einen hohen Stellenwert. “Das macht man nicht.”, oder “Am Samstag fegt man den Gehweg.” sind unverrückbare Glaubenssätze.
  5. Die Prinzipien und Normen zeigen auch in zwischenmenschlichen Fragen wenig Flexibilität. Man hat Schwierigkeiten loszulassen, jemandem zu verzeihen oder andere Lebensansichten zu akzeptieren
  6. Das Wegwerfen und die Trennung von Gegenständen fällt einem schwer, Dinge häufen sich an, man könnte sie ja vielleicht noch brauchen. Oft führt das Sammeln (siehe Messisyndrom) zu überfüllten Wohnungen.
  7. Man kann Aufgaben nicht abgeben und andere nicht zur Arbeit motivieren. “Was man nicht selbst macht, wird nichts.”, könnte es manchmal lauten. Man arbeitet nicht gern oder nur sehr schlecht in Gruppen. Keiner genügt den eigenen Ansprüchen, man selbst ja auch nicht.
  8. Perfektionismus ist auch eine Form von Angst (dazu später mehr). Daher zeigt er sich manchmal auch in einer fehlenden Großzügigkeit, Geld wird gespart, am Spaß wird gespart, alles wird festgehalten, gespart und auf später verschoben, das Hier und Jetzt rückt in den Hintergrund.

Ein Zitat von Jürgen Klopp macht die gesamte Tragik des Perfektionisten deutlich: “Ich glaube nicht daran, dass die Angst vorm Verlieren dich eher zum Sieger macht als die Lust auf Gewinnen.” 

Die zwanghafte (anankastische) Struktur

Betrachten wir nun den psychischen Befund, der einem großen Perfektionismus zugrunde liegen kann. Viele Menschen davon leiden an einer anankastischen Persönlichkeitsakzentuierung. Denn Perfektionismus ist oft nur ein Symptom, es gibt aber noch einige andere. Man erkennt zwanghafte Menschen oft an der übertrieben starken und sturen Ausprägung von sekundären psychosozialen Normen und Fähigkeiten. Das zeigt sich in den Übertreibungen:

Ordnung wird zur Pedanterie, Genauigkeit zum Perfektionismus, Sparsamkeit zum Geiz, Reinlichkeit zum Waschzwang, Disziplin zu blindem Gehorsam, Höflichkeit führt zur Distanziertheit, Fleiß wird zum Tätigkeitszwang.

Wie Zwang entsteht

Die Präformierung für eine zwanghafte Struktur kann nach der tiefenpsychologischer Sicht bereits im 2. oder 3. Lebensjahr erfolgen. Diese Zeit wird auch die “Phase der handelnden Weltbewältigung” genannt. Hier erlernt das Kind neue motorische Möglichkeiten zum Ausdruck von Affekten wie Expansion und Aggression, aber auch retentive Antriebe wie das Festhalten von Dingen. Wichtig ist auch die Durchsetzung des eigenen Willens, der Trotz. Ein starkes Über-Ich mit vielen Ge- und Verboten, moralisierenden Vorstellungen und Ermahnungen kann das Kind überfordern und in seiner Entwicklung einschränken. Der implizite Aufforderungscharakter hinsichtlich Sauberkeit, Ordnung, Perfektion und Selbstbeherrschung unterdrückt individuelle Handlungsimpulse. Von außen kommende Vorstellungen überfremden die meisten persönlichkeitseigenen Impulse. Der Übergang von einer strengen zu einer legalistischen Erziehung ist fließend. Und auch der Unterschied zwischen einem “gut erzogenen Kind “ und einem “dressierten fremdgesteuerten Objekt” ist kleiner als gedacht. Durch das fehlende Erleben von positiven Konsequenzen des eigenen Handelns kommt es zu der Hemmung, einen Besitz ergreifen und die Umwelt erschließen zu wollen. Nach Meinung des deutschen Psychoanalytikers Harald Schultz-Hencke fehlt die “lebhafte Bereitschaft zum Handeln, und zwar am rechten Ort, zur rechten Zeit und in rechter Weise”. Eine fatale Verknüpfung kommt hinzu. Da in diesem Alter noch wenig bis keine kognitive Fähigkeit zur Kausalverknüpfung ausgeprägt ist, überwiegt das magische Denken, welches Personen und Gegenstände mit mächtigen übersinnlichen Fähigkeiten ausstattet. Die Umwelt ist voll von Persönlichkeit. Jedes Ding hat seinen Willen, seine Wünsche und seine Aufgaben. Und die Beherrschung dieser allbeseelten Umwelt ist nur durch magische Handlungen möglich.

Beispiel Apfelpflücken 1

Ich soll die Äpfel vom Baum pflücken. Ich hole Leiter und Eimer, steige auf den Baum und lege los. Die magische Überzeugung, dass der Baum die unbedingte Befolgung der mir von außen oktroyierten Bedingungen überwacht, sorgt für die zwanghafte Auslegung des Apfelpflückens – ich versuche, wirklich JEDEN Apfel zu erreichen und abzupflücken. Dazu gebrauche ich konstruierte Systeme, z. B. eine gewisse Reihenfolge, wie ich Ast für Ast angehe, so dass möglichst wenig Äpfel übersehen werden können. Die Bestrafungsangst ist höher als der Erfüllungswille. Und auch die einzelnen Äpfel scheinen die IM der Aufgabe zu sein und mich genau zu überwachen.

Aus Angst wird Zwang

Ständig befürchten diese Menschen, etwas falsch zu machen oder wegen eines Fehlers gemaßregelt zu werden. Dadurch stauen sich Aggressionen, die zu einer permanenten Schwankung zwischen Rebellion und Unterwerfung gegenüber Autoritäten führen. Die eigenen Gefühle und Triebbedürfnisse werden unterdrückt. Eine minutiöse Planung gibt Halt und dient als Gerüst für alle Tätigkeiten. Die Tage bestehen aus Ritualisierungen. Daher verursachen Überraschungen und Spontaneität Angst.

Dieser äußere Zwang behindert den Vollzug des eigenen Willens und hemmt so die Autonomieentwicklung. Dadurch wird er introjiziert, also zu einem INNEREN Zwang. Das unausgereifte und fragile Selbst wird durch magische Rituale und Fremdkontrolle stabilisiert. Die reaktiven Affekte wie Ohnmacht, Wut und Hass werden abgewehrt und in sozial akzeptierten Normen abgeleitet. (sehr gut zu beobachten bei verbissenem Fegen und Schrubben, Händewaschzwang und Angstreaktionen auf Schmutz und Staub – humorvolle Verarbeitung in: Die Olsenbande ergibt sich nie). Die beständig bemühte Selbstkontrolle kann leicht erschüttert werden. Das geschieht meistens in Situationen, wo man versagt oder verführt wird, also ein Durchbruch von Emotionalität und Triebregung befürchtet werden muss. Diese Affekte müssen nun isoliert werden. Typische Abwehrmechanismen sind: Reaktionsbildung, Rationalisierung und Intellektualisierung.

Beispiel Apfelpflücken 2

Nehmen wir wieder die Äpfel. Der Zwang, diese zu pflücken löst in mir eigentlich Trotz aus. Ich will es nicht tun. Innerhalb der Reaktionsbildung aber verkehrt sich dieser “Streik” in “Gehorsam”. Ich pflücke besonders sorgfältig und gewissenhaft. Die Rationalisierung “erkennt” den Sinn dahinter. Es ist nämlich gut, dass ich die Äpfel alle pflücke, denn sie waren reif, wir brauchen sie für Apfelmus etc. “Man muss eben auch mal seine Faulheit überwinden…” Als Intellektualisierung bezeichnet man den Abwehrmechanismus, der die gesamte innere Dynamik als lächerlich und übertrieben abtut und mir sagt: “Hab dich mal nicht so, pflück jetzt einfach die Äpfel und gut…”

Es kann natürlich dazu kommen, dass alle ängstlichen Gefühle einen überwältigen, also die Über-Ich-Angst dominiert. Da das Über-Ich immer noch in einer kindlichen Phase der strafenden Autorität (Elternteil) steckengeblieben ist, wird nun versucht, zu vertuschen, zu lügen, sich abzuducken oder zu fliehen.

Die anankastische Struktur als Kurzfassung

Der Perfektionismus als eine Form der zwanghaften Persönlichkeitsstruktur zeigt sich im Denken und Handeln als übergenau und sehr anspruchsvoll. Man verlangt von sich und seiner Umwelt die unbedingte Einhaltung von Sozialnormen. Der implizite Auftrag kann also lauten: “Ich will über alles Kontrolle haben, hilf mir, mein Gewissen zu beruhigen.” Freier Wille und Selbstbehauptung werden gegenüber einer als übermächtig gefühlten Umwelt abgewehrt. Verschiedene unbewusste Mechanismen in Form magischer Rituale versuchen, das strafende (alttestamentarische) Über-Ich zu beschwichtigen. In der Gegenübertragung, also wie wir auf solche Menschen reagieren, wirken diese Menschen anstrengend, lösen Unlust und Aggressionen aus. Der unbewusste Konflikt anankastischer Persönlichkeitsakzentuierungen ist die eigene Ohnmacht und der innere Auftrag, dass keiner “merken” darf, wie wütend man ist. Andererseits ist es die Angst vor dem sich einstellenden Chaos, wenn man nicht die totale Kontrolle von sich und seiner Umwelt hat. Die Konsequenz daraus ist, dass zwanghafte und perfektionistische Menschen nur schlecht mit Veränderungen und Machtverschiebungen umgehen können.

Fazit

Die Studentin aus unserem ersten Beispiel ist wirklich nicht zu beneiden. Denn Perfektionismus ist nicht der Spaß an Genauigkeit, sondern die Strafe für Ungenauigkeit. Und dieses frustrane Erleben wiederholt sich Tag für Tag. Es gibt natürlich viele gutgemeinte Ratschläge für mehr Spontaneität, mehr Freiraum und mehr “Unperfektheit”, Achtsamkeitsübungen und Meditationen können das Wohlbefinden unterstützen. Dennoch sollte man sich nicht zu viel davon versprechen, da Perfektionismus zu einer dysfunktionalen Störung auswachsen kann und die anankastische Persönlichkeitsakzentuierung eine sehr alte (das heißt tiefenpsychologisch “sehr früh erworbene”) Entwicklungsbeeinflussung ist. Daher sind “Spontanremissionen” durch die “7 Tricks und Tipps” eher selten. Eine Psychoanalyse oder andere tiefenpsychologische Therapieverfahren erscheinen mir hier eher angebracht.


Bitte beachtet auch meine Schwerpunktseite: www.musikerberatung-frieling.de.

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