Müssen!

Unser Alltag besteht aus sehr vielen Anweisungen und Zwängen, die wir befolgen müssen. Man liest täglich Gebote und Hinweisschilder, die ein Müssen implizieren: “Nur rechts gehen!”, “Maske tragen!” “Draußen nur Kännchen!” Musiker kennen es vom alles beherrschenden Worte “Üben!” Dabei können seine näher bestimmenden Adjektiva frei gewählt werden: “mehr…”, gründlicher…”, regelmäßiger…” Und diese Zwänge gibt es nicht nur von außen, nein, die meisten davon sind in uns und werden von uns selbst beständig hergebetet.

Die Reaktanz auf das Müssen

Sagt man einem kleinen Kind, dass es sich jetzt anziehen müsse, kann man fast immer eine trotzige und ablehnende Reaktion erleben. Schlaue Eltern verpacken daher solche Anweisungen in sportliche Herausforderungen, die eher motivieren: “Schaffst Du es eigentlich schon, Dich selbst anzuziehen?” Es gibt eine Unmenge von Möglichkeiten, Kindern unliebsame Aufgaben schmackhaft zu machen. Aber die reine Aussage, etwas tun zu MÜSSEN, ist auf alle Fälle die unschönste dabei.

Und dennoch scheinen wir das oft zu vergessen, gehen wir doch mit uns selbst und unserem kleinen inneren Kind so um, wie wir es mit anderen Kindern nie tun würden: “Ich muss jetzt aufstehen.”, “Ich muss jetzt loslaufen.”, “Ich muss mich nachher noch mit Tante Liobolda treffen.”, “Ich muss mit dem Rauchen aufhören.”

Die Wahrscheinlichkeit, dass man freudestrahlend dieser Diktion folgt und alles, was man muss, gerne macht, halte ich für relativ unwahrscheinlich. Denn auf das Müssen folgt meistens der Widerstand, es nicht tun zu wollen. Unangenehme Aufgaben, die befehlsartig durchgestellt werden, führen oft zu dem Gefühl, dass die persönliche Freiheit eingeschränkt wird. Diesen Widerstand dagegen nennt man auch Reaktanz.

Müssen wird zu möchten, sollen zu können

Schöne Dinge werden unangenehmer, wenn man sie muss. Das Müssen ist anstrengend. Daher ist es naheliegend, dass freiheitseinschränkende Befehle mit ressourcennutzenden Möglichkeiten ausgetauscht werden: “Ich muss in die Stadt gehen und an dem Stand am Markt Wurst kaufen.”, klingt banal und völlig harmlos, aber wäre es nicht schöner zu sagen: “Ich möchte in die Stadt gehen und beim Metzger Schneiderlein diese leckeren, frischen Würste kaufen.”? Dieses piefige Beispiel soll natürlich nur die Heroik eigentlich wichtiger Selbstsätze karikieren: “Ich möchte üben…”, “Ich kann diese Stelle spielen und möchte sie noch öfter üben.”, “Ich bin neugierig auf dieses Stück und möchte es gründlicher kennenlernen.”

Erlernte Glaubenssätze, verlernte Achtung

Es scheint aber oft, dass wir in unserem Müssen Glaubenssätzen folgen, die wir gar nicht mehr wirklich hinterfragen, oder gar anderen auferlegen. Oft scheint es sogar, als wenn man vor sich selbst weniger Respekt hat als vor anderen. Gelerntes wird immer wieder nur übernommen. Wie bei dem Spinat-Eisen-Phänomen, so ist es bei uns auch mit den Glaubenssätzen. Manche sind nützlich und sinnvoll, andere nur tradierter Ballast: “Ich muss mehr Geld verdienen.”, “Ich muss gut aussehen.”, “Ich muss schlanker werden.” Ich muss witzig und eloquent sein.” etc. Alles klar?

Kleine Übung: Schreibt Euch Eure Glaubenssätze auf, die ihr bei Euch entdeckt, beispielsweise so: “Ich glaube, dass ich gut aussehen muss, sonst werde ich nicht geliebt.”, “Ich glaube, dass ich viel Geld verdienen muss, sonst nehme ich mich nicht ernst.”, “Ich glaube, dass man mich nicht um meiner selbst lieben kann, sondern nur, wenn ich besonders witzig und eloquent bin.” etc.

Warum muss man eigentlich ständig etwas?

Die tradierten Glaubenssätze kommen von einer Über-Ich-geprägten Umwelt, die ein Idealselbst erschaffen will. Wir übernehmen sie als Kinder und hinterfragen sie nicht mehr als Erwachsene. So vermehren sich diese Muss-Sätze wild und unkontrolliert. Man kann auch sagen, dass das Über-ich ein Bürokratieproblem hat. Immer mehr Anweisungen, Befehle, Zwänge und Richtlinien tummeln sich in uns. Und wenn man sich derer nicht bewusst ist und sie hinterfragt, ablegt oder ersetzt, führen sie dazu, dass sie eine beständige Diskrepanz zwischen einem Idealselbst und unserem Realselbst erschaffen. Und das führt zu einer tiefen Frustration, die zu depressiven Reaktionen führen kann. Das Diskrepanzerleben führt eben nicht zu dem Idealselbst, wie immer wieder gehofft, sondern zu einem verachteten Selbst, weil wir uns selbst enttäuschen: “War ja klar, dass ich versage.” “Natürlich habe ich das wieder nicht geschafft.” “Ich bin natürlich zu dick dafür, weil ich mich nicht zusammenreißen kann.”

Fazit und Ausblick

Zum Schluss gucken wir nochmal zum Musiker, der das tägliche Üben mit der Frustration verbindet, nie genügend zu üben. Nachdem er seine inneren Glaubenssätze durchforstet hat und sein Idealselbst mit seinem Realselbst abgeglichen hat, steht noch die Frage aus, welche Anforderungen seine eigenen sind und welche von außen kommen und mit ihm nichts zu tun haben? Das können ehrgeizige Pläne der Eltern sein, das kann die Erwartung des Hauptfachlehrers sein, oder das kann der Wunsch des Partners sein. Erst wenn man sich diesen Fragen nähert, bekommt man vielleicht eine Ahnung, was man selber möchte und nicht muss.


Bitte beachten Sie auch meine Schwerpunktseite: www.musikerberatung-frieling.de.

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