Karl hat Angst vor den Menschen

Prüfungsangst kennen die meisten von uns, auch die Unsicherheit, vor einer Menschenmenge zu sprechen, rot zu werden, schweißnasse Hände zu bekommen oder das unangenehme Gefühl zu haben, dass die Stimme komisch klingt – all das sind Symptome, die viele von uns mehr oder weniger kennen. Aber es gibt Menschen wie Karl, denen geht das fast immer so, und zwar dann, wenn sie anderen Menschen begegnen. Oft meiden sie jeden Kontakt, igeln sich zu Hause ein und können nur kurz vor Ladenschluss einkaufen. Diese Menschen leiden an sozialer Phobie, und es gibt derer viele, viele mehr, als man denkt.

Karl und der Alltag

Was ist eine soziale Phobie? Das beschreibt am besten eine Situation, wie sie täglich tausende Male vorkommt:

Nennen wir ihn Karl Müller. Er ist 14 Jahre alt, geht in eine Mittelschule einer mittelgroßen und mittelhässlichen Stadt in der Mitte Deutschlands. Nur sein Notendurchschnitt ist nicht wirklich durchschnittlich. Noch vor einem Jahr war er ganz gut in der Schule, jetzt aber sackt er ab. Kein Lehrer weiß, warum. Erste Barthaare sprießen. Stimmbruchgeprägte Laute ersetzen seinen bisherigen Sopran. In der Pause sieht man schon mal ein oder zwei andere Jungs, die ihn ärgern, mobben. Ansonsten ist er immer allein. Er sagt nichts, wartet oft lange noch nach der letzten Stunde hinter den Pfeilern des Flures, um unbehelligt nach Hause zu gehen. Aber manchmal warten die anderen auch…

Viele Jahre später sitzt er in einer kleinen Wohnung vor dem Computer. Die Vorhänge sind zugezogen, obwohl es ein freundlicher Frühlingstag ist. Er programmiert Avatare für Online-Spiele. Pizzakartons stapeln sich neben ihm. Abends, kurz bevor es dunkel ist, geht er nochmal schnell einkaufen und hofft, dass ihn keiner sieht. Er hat Angst. Angst davor, jemanden zu sehen, Angst davor, peinlich aufzufallen, Angst davor, Aufmerksamkeit zu erregen und Angst davor, sich zu blamieren. Er geht Umwege, um ja nicht Personen begegnen zu müssen, die er von früher kennt. Keiner darf ihn kennen. Es ist furchtbar. Keinen Beruf gab es, wo er nicht nach wenigen Tagen mit furchtbaren Magenschmerzen, Schwindel und Migräne aufhören musste. Nun ist er berufsunfähig mit Anfang zwanzig und sitzt zu Hause und fragt sich, wie lebenswert sein Leben ist.

Karl leidet an sich

Stellt Euch vor, ihr geht mit einer Gouvernante (auch hier die Anmerkung: Es ist keine Diskreditierung des Berufs an sich, nur ein überspitztes Bild.) spazieren. Diese kommentiert alles und jedes, was du tust. Aber immer in Kombination mit Verbot, Brüskierung und Ermahnung: "Geh nicht so komisch, was sollen die Leute sagen? Guck nach vorn, geh nicht so krumm, oh, wie furchtbar, du bist total verkrampft, wie peinlich, iih, da zeigt sich doch nicht etwa Schweiß unter den Achseln? Und überhaupt, werd nicht gleich rot, es ist ja furchtbar mit Dir…” Die Gouvernante geht immer neben dir und peinigt dich mit ihrer permanenten Gängelei. Und immer geht es darum, dass du in “ihren” Augen nicht genügst, peinlich und beschämend bist, sich andere Leute über dich amüsieren und du eine Lachnummer für andere bist. Diese Ermahnungen und Meckereien führen dazu, dass du körperliche Symptome entwickelst, die du mit am peinlichsten findest, die du befürchtest und die du unter allen Umständen gar nicht brauchen kannst, nämlich Symptome, die deinen Stress nach außen zeigen: rot werden, Schweiß, zittrige Stimme etc. Doch allein vor Angst, nicht rot werden zu wollen (“Ich darf nicht rot werden, ich darf nicht rot werden, ich darf nicht rot werden…”) geschieht was? Man wird unweigerlich rot. Und Karl hat diese Gouvernante stets dabei, nicht real, aber imaginär als sein zweites Ich.

Kleine Übung: Denk mal jetzt an KEINEN rosa Elefanten. Bin gespannt.

Karl ist nicht alleine

Auch wenn man denkt, dass diese Form der Phobie eher selten bis nie auftritt, so täuscht man sich sehr. Zwischen 7% und 14% liegt die Lebenszeitprävalenz, also die Wahrscheinlichkeit, dass man einmal im Leben daran erkrankt. Aber eigentlich sagt das nicht viel, da es vor allem junge Menschen betrifft. Und dort ist der Prozentsatz deutlich höher. Neben der sozialen Angst  entwickeln sich leider sehr häufig Komorbiditäten wie Depression, Substanzabhängigkeit, Zwangsstörungen und andere Krankheitsbilder. Die Folge davon ist die Verstärkung der Isolation, bis hin zu einer existenzgefährdenden Situation und Suizidalität. Daher ist die Soziale Phobie nicht direkt vergleichbar mit anderen Phobien, wie der Arachnophobie (Angst vor Spinnen).

Karl fürchtet sich vor sich

Die Soziale Phobie ist eine Angststörung, bei der Menschen sich vor der vermeintlichen Beurteilung anderer fürchten. Doch paradoxerweise ist es die eigene Beurteilung, die man fürchtet. Die Blamage, die Peinlichkeit, die negativen Bewertungen, die Ablehnung, das hämische Lachen – all das geschieht fast immer nur im Kopf bei einem selbst. Der Stress, dass andere bemerken können, dass man Stress hat, führt dazu, dass andere bemerken, dass man Stress hat und das stresst einen erneut. Alles klar? Es ist ein circulus vitiosus, ein Teufelskreis, aus dem man nur alexandrinisch herauskommt. Man muss den Knoten zerschlagen und nicht versuchen, ihn zu entwirren.

Karl hat immer Angst

Karl beispielsweise lebt in der Überzeugung, dass sein Wert davon abhängig ist, wie ihn andere finden. Er muss untadelig sein. Jeder Fehler, jedes Vergehen, jede Peinlichkeit, jeder Lapsus oder jede Unsicherheit bedeuten unbarmherzige Kritik, strafender Tadel und unausweichliche Scham. Er ist überzeugt davon, dass der Blick von außen kritisch und genau ist (besser gesagt überkritisch und übergenau). Diese Bewertungsabhängigkeit von anderen erhöht auch seine Angst. Er lebt, um das mal zu übersetzen, in einer ständigen Prüfungssituation, egal, wo. Nehmen wir mal ein Beispiel: Er will zum Supermarkt kurz vor Ladenschluss gehen und nimmt einen Umweg, warum?: “Hier darf ich nicht langgehen, da habe ich mal Maria getroffen, da habe ich bestimmt irgendwie doof gelächelt, bestimmt denkt sie jetzt, ich sei ein Irrer, ich habe mich so geschämt, das hat sie bestimmt gesehen und sich geekelt, und bestimmt hat sie das auch den anderen erzählt, denen kann und darf ich auch nicht begegnen, denn wie stehe ich vor denen dann da, wie ein doofer Vollhonk, wie peinlich, bestimmt tuscheln die über mich, ich kann diese Schmach nicht ertragen, wahrscheinlich sieht man mir das schon an…”

Karl bräuchte mehr Selbstwert

Grundsätzlich hat Karl ein Selbstwertproblem, denn sein Selbstwert ist davon abhängig, wie andere ihn bewerten. Doch darin liegen zwei wesentliche Schwächen: Zum einen haben die anderen ihn gar nicht bewertet, sondern Karl denkt nur, dass und vor allem wie die anderen ihn bewerten. Zum anderen ist die Meinung der anderen über Wert oder Unwert für den Selbstwert unerheblich. Der Selbstwert kommt von einem Selbst und bei Karl eben von seiner schlechten Meinung über sich, die er anderen in die Schuhe schiebt. Seine permanente Autofokussierung löst Angst aus (“Werde ich rot?”, “Habe ich Schweißringe am T-Shirt?”, “Rieche ich irgendwie komisch?”, “Habe ich Marie in den Ausschnitt gestarrt?” etc.) Das führt wie bei einer Meditation dazu (“Wir stellen uns vor, das Bein wird schwer…”), dass es wirklich eintritt. Er wird rot, bekommt Schweißflecken, riecht nach Angstschweiß und starrt Maria komisch an.

Karl sollte sich seiner Angst stellen

Zentrale Thematik ist hier ganz klar die übergroße Selbstbetrachtung und fast schon lauernde Selbstbeobachtung. Das Misstrauen gegenüber sich selbst lässt Karl beständig zweifeln. Und jeder Zweifel wird natürlich auch gemaßregelt. Das Denken muss und kann geändert werden. In der kognitive Verhaltenstherapie wird beispielsweise mit einer stufenweisen Konfrontation (Exposition als evaluierte Behandlungsmethode) gearbeitet, die zum Ziel hat, die aufkeimende Angst, das Gefühl der Panik und der Wunsch, der Situation sofort zu entfliehen, Stand zu halten und zu bemerken, wie die Angst abflaut. (In der Psychologie spricht man davon, dass durch spezielle Reize ausgelöste negative Affekte bewältigt werden müssen.) Karl muss in einfachen und begleitenden Schritten lernen, dass Angst kein Dauerzustand ist, sondern nur eine Zeitlang von ihm Besitz ergreift und sich danach wieder beruhigt. Ziel ist also die Habituation, die Gewöhnung. Karl lernt, sich Situationen zu stellen und die anflutende Angst zwar wahrzunehmen, aber aufgrund der positiven Erfahrung, dass sie auch wieder schwindet, sie auszuhalten. Und er lernt auch, dass es keinen Sinn hat, körperliche Symptome zu unterdrücken, sondern sie wertungsfrei in Kauf zu nehmen, eben sie zu bekommen. (Von: “Ich darf nicht rot werden, ich darf nicht rot werden, ich darf nicht rot werden…” wendet er sich hin zu: “Ich nehme wahr, wie ich rot werde." Und dann: “Ich nehme wahr, wie ich wieder ruhig werde.”)

Karl sollte seine Glaubenssätze kennen

Weiterhin geht es nun bei Karl um seine Glaubenssätze. War er als Mobbingopfer noch den bösen Taten und Kommentaren seiner Mitschüler ausgesetzt, hat er deren abfällige Haltung für sich internalisiert, zumindest scheint es so. Auch er sagt sich anscheinend: "Ich bin ein peinlicher Versager, der ständig gehänselt, ermahnt und angemeckert werden muss.” Aber diese Glaubenssätze muss man sich erstmal bewusst machen, dass man sich für einen Versager hält und schlimmeres. In der kognitiven Verhaltenstherapie nennt man das Disputation, also Streitgespräch mit sich. Und natürlich bespricht man auch, woher diese Glaubenssätze kommen (biographische Kontextualisierungen).

Karl sollte nicht vermeiden

Aber wie viele Dinge, die wir vermeiden, werden sie auch bei Karl größer (negative Verstärkung). Wenn wir es nicht mögen, öffentlich etwas sagen zu müssen und dieser Situation ständig aus dem Weg gehen, wird die Angst davor, es doch einmal tun zu müssen, höher. Aber eben nicht nur die Angst wird größer, sondern auch die Fähigkeit, öffentlich etwas sagen zu müssen, bleibt unausgebildet. Die Angst ist also begründet. Daher gehören Übung und Exposition, also das Aushalten unangenehmer Dinge, zum Alltag dazu, um damit besser fertig zu werden. Man nennt das auch Kompetenzentwicklung, die aber jedem von uns gut tut. Das Credo: “Mach es dennoch!” hilft, unseren Selbstwert zu erhöhen und unser Selbstbewusstsein zu schulen. Denn Fehler als zu einem zugehörig zu empfinden, ist der erste Schritt, seinen Selbstwert nicht mehr erfolgsabhängig zu stärken. (Von: “Heute war ich ganz gut, da habe ich mich mehr lieb als gestern, da habe ich ganz schön versagt. Dafür hasse ich mich…” wird zu: “Heute war ich ganz gut, da habe ich mich genauso lieb wie gestern, wo ich nicht so gut war. Fehler gehören zu mir.”)

Karl sollte seine Kontrolle aufgeben

Karl will alles kontrollieren. Mit seinem beständig lauernden, ermahnenden, tadelnden und abwertenden Gouvernanten-Blick, beäugt er permanent sein inneres Kind. Er will es kontrollieren, dass es auch ja nichts falsch macht. Gleichzeitig nimmt er in jeder noch so kleinen Reaktion Anzeichen von anderen Menschen wahr, die seine eigene Haltung von sich zu bestätigen scheinen. (“Ich habe es genau gesehen, er hat seine Augenbraue kurz hochgezogen, das heißt, er findet mich total doof…”) Doch wie ein berühmtes Studentenlied heißt: “Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten.'' sind Gedanken eben nicht kontrollier- oder erkennbar. Also Karl zumindest kann das nicht. Weder ist er in der Lage, alle Gedanken und Gefühle anderer Menschen zu kennen oder zu kontrollieren, noch hat das irgendeinen Sinn für seinen verkümmerten Selbstwert. Sympathie ist eine Sache, die auf vielen Faktoren beruht, nicht zuletzt auch darauf, dass man einen gesunden Selbstwert hat. Hier hilft es Karl vielleicht, dass er übt, wahrzunehmen. Denn oft werden durch seine Glaubenssätze Realitäten komplett verzerrt und lapidare Dinge, die dazu passen, überhöht. Aber andererseits werden nicht dazu passende Reaktionen, also in diesem Falle positives Feedback, ignoriert oder gar konterkariert. Kurz: gute Erlebnisse werden bagatellisiert, negative generalisiert.

Karl sollte Mitleid mit sich haben

Warum behandelt er sich eigentlich so schlecht? Würde er eines anderen Menschen Kind so böse behandeln? Würde er jemals so streng und vernichtend sein? Glaubt er wirklich, dass diese "Erziehungsmethode" irgendetwas Positives bewirkt? Hat er sich mal gefragt, warum er sich selbst (seinem inneren Kind) so misstraut? Gibt er sich selbst mal eine Auszeit, wo es “spielen” gehen darf? Möchte er, dass man mit ihm jemals so umgeht, wie er mit sich umgeht? Vielleicht sollte Karl seinen Bedürfnissen, seinen tatsächlichen Wünschen und auch seinen Genüssen nachgehen. Manchmal kann es helfen, sich für eine kleine Weile nur darauf zu konzentrieren, was man gerade am liebsten täte. Oder was der Unterschied zwischen der Lieblingsbeschäftigung des inneren Kindes und des erwachsenen Ichs ist. Da gibt es die komischsten Situationen. Bei Karl könnte die Überlegung lauten: “Mein inneres Kind möchte bei diesen Temperaturen am liebsten schaukeln gehen, aber mein erwachsenes Ich möchte lieber auf der Bank ein schlaues Buch lesen.” Beiden gemein ist der Wunsch, nach draußen zu gehen. Aber die Angst wird es nicht zulassen.

Fazit

Eine Soziale Phobie ist keine Lappalie, das sind Phobien sicherlich nie. Aber hier handelt es sich um eine sich ständig erweiternde Angst (manchmal auch frei flottierend sich zu einer generalisierten Angststörung ausweitend), die existenzbedrohend ist und sich zur völligen Verzweiflung und Suizidalität steigern kann. Daher ist die Soziale Phobie, vor allem, weil sie mit die häufigste psychische Erkrankung ist, sehr, sehr ernst zu nehmen. Ihre Anzeichen sollte man versuchen, frühzeitig zu erkennen. Im Gegensatz zu anderen psychischen Erkrankungen ist bei Phobien die Prognose äußerst günstig. Die kognitive Verhaltenstherapie hat sich hier als effektivste Therapieform herausgestellt. Karl kann wirklich geholfen werden, aber er braucht das Vertrauen und die Geduld, dass man mit ihm gemeinsam die Schritte geht.


Bitte beachtet auch meine Schwerpunktseite: www.musikerberatung-frieling.de.

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