Introvertiert – Der Komische oder der Glückliche?

Die in unser Alltagsleben integrierten Begriffe von” introvertiert” und “extro(a)vertiert” sind Bezeichnungen von Persönlichkeitsmerkmalen, die C. G. Jung eingeführt hat. Letzte Woche lag der Schwerpunkt auf der "Extraversion", also grob gesagt auf einen Typus, der nach außen gerichtet und empfänglich für Fremdeinflüsse ist (siehe auch: Extraversion – Fluch oder Segen?). Heute soll es um seinen Gegenpart gehen, den introvertierten Typus, der mehr auf das Innere gerichtet ist und eher verschlossen als aufgeschlossen wirkt. Jungs Typologie ist schon über hundert Jahre alt und ist dennoch eine auch noch heute gültige multidimensionale Klassifikation, die verschiedene Persönlichkeitsmerkmale heranzieht und in zwei Grundtypen klassifiziert. Daher ist "introvertiert" und "extravertiert" eine Einteilung in Persönlichkeitstendenzen, die sich schwerpunktartig ausschließen.

Ist eine Klassifikation überhaupt sinnvoll?

Bevor wir uns genauer dem introvertierten Typus zuwenden, möchte ich ganz kurz auf die Grenzen dieser Klassifikation eingehen. Die von verschiedenen Persönlichkeitsmerkmalen subsumierten Muster, die diese dualistische Einteilung ermöglichen, berücksichtigen weniger die individuellen Anteile, also die Ausprägungsstärke, als vielmehr eine allgemeine Tendenz. Für eine individuelle Betrachtung ist daher das Konzept der Ambiversion nutzbarer und kommt unserem realen Verhalten näher. Dennoch macht schon Jung deutlich, dass die Typologie sehr selten als Reinformen existieren, sondern nur eigene Tendenzen erklären kann.

Zur Charakterisierung des "extravertierten" Typus schreibt C. G. Jung, dass er ein “entgegenkommendes, offenes und bereitwilliges Wesen” habe, die Libido (psychische Energie) fließt nach außen. Demgegenüber zeichnet sich der “introvertierte” Typus eher durch sein “zögerndes, reflexives, zurückgezogenes'' Wesen aus. Der Typus wirkt in sich gekehrt, verschlossen und manchmal misstrauisch. Jung kombiniert die Unterscheidung zwischen Extraversion und Introversion mit den vier allgemeinen Funktionen der Psyche, dem Denken, Fühlen, Empfinden und Ahnen. Es ergeben sich also acht verschiedene Typen:

Rationale Funktionen

  1. Denken als Abwägen, Überlegen, logische Argumentation.
  2. Fühlen als emotionale Bewertung durch eine körperliche Reaktion.

Irrationale Funktionen

  1. Empfinden, was im Gegensatz zum Fühlen nicht körperlich erlebbar ist, sondern eher eine sinnliche Wahrnehmung beschreibt.
  2. Ahnen oder Intuition, was wir gerne als Bauchgefühl beschreiben.

Jede dieser psychischen Funktionen kann dominieren, also das Denken dominiert das Fühlen oder andersherum. Die unterlegene Funktion, beispielsweise das Fühlen, wird dann in das Unbewusste abgedrängt. Durch die Regression dieser ins Unbewusste verschobenen Gefühle können seltsame Reaktionen entstehen, bspw. können rationale und souveräne Menschen plötzlich an Wutanfällen leiden oder übertrieben rührselig sein. Gleichzeitig können die dominierenden Funktionen, bspw. das Denken, als Hilfsfunktion noch das Ahnen zur Seite gestellt bekommen, wie der rationale Geschäftsmann, der dennoch aus der Intuition heraus Menschen vertraut oder nicht.

Die vier Funktionstypen am Beispiel der Introversion:

Denken: Ein "subjektives Richtungsgefühl” lässt Überlegungen und Fragestellungen entstehen. Man grübelt und ist mit seinen Gedanken beschäftigt, aber Anregungen von außen gegenüber eher reserviert und misstrauisch. Die eigene Gedankenwelt folgt einem selbstgeschaffenen Gedankenkonstrukt, welches in sich logisch und stimmig ist, zumindest als Ziel. Als Klischee dieses Menschentypus’ stellt man sich vielleicht einen zurückgezogenen Philosophen vor, der in seiner Studierstube über Jahre hin eine eigene Gedankenwelt entwickelt und dicke Wälzer schreibt.

Fühlen: Subjektive Gefühle der introvertierten Art zeichnen sich dadurch besonders aus, dass ihre Motivation oder besser gesagt Konnotation von außen nur schwer erklär- und deutbar sind. Im Gegensatz zu empathischen extrovertierten Typus können sie zwar sehr sensitiv gegenüber ihren eigenen und auch objektbezogenen Gefühlen sein, aber zeigen sich nach außen eher kühl, undurchdringlich und eher abweisend als freundlich. Instrumentenbauer oder Kunsthandwerker, die Geduld und Liebe für das Detail brauchen und hinterm Wald in einer kleinen Hütte wohnen und tagein, tagaus die gleiche abgewetzte Cordhose tragen, könnte man sich als Klischee vorstellen.

Empfinden: Eine introvertierte empfindungsstarke Seele ist vielleicht am besten mit Künstlern beschreibbar, die wie Maler auf ein äußeres Erleben mit einem starken inneren Empfinden reagieren und und es mittels eines Mediums (Bild, Skulptur, Komposition) ausdrücken. Das Objekt ist zwar handlungsleitend, wirkt aber meistens nur als Auslöser. Das Ergebnis ist für andere Menschen nur selten eindeutig einem objektbezogenen Auslöser zuzuordnen. Als ein berühmter, wenngleich auch sehr exzentrischer introvertierter Maler gilt Vincent van Gogh.

Ahnung: Hier handelt es sich oft um Menschen, die wir am ehesten dem Gemeinplatz des Introvertierten zuordnen. Als Schüler sieht man sie aus dem Fenster schauen, träumen und nur wenig am Unterrichtsgeschehen teilhaben. Sie haben seherische Begabungen und einen Hang zum Okkulten und zur Esoterik. In der Kombination mit der rationalen Funktion eines starken Fühlens kann auch, wie beim Empfinden, eine starke künstlerische Seite ausgeprägt werden. Dieses Mal oft in Kombination mit körperlichem Ausdruck wie Tanz, Kampfkunst, Yoga o. ä.

Der introvertierte Mensch

Der introvertierte Mensch gilt als schüchtern, in sich gekehrt, eher scheu, aber auch als misstrauisch und ablehnend. Das macht ihn in der Gemeinschaft wenig attraktiv. Viele versuchen sie zu meiden, oder sie meiden die Gesellschaft selbst. So sind introvertierte Menschen eher gefährdet, soziale Phobien auszuprägen. Das wiederum bedeutet aber nicht, dass die Introversion die gefährdete, oder noch krasser ausgedrückt, die schlechtere der beiden Typologien ist. Jeder Mensch integriert introvertierte und extravertierte Anteile in unterschiedlichen Ausprägungen. Insofern haben die Persönlichkeitsmerkmale, die schwerpunktmäßig eher zur Introversion oder Extraversion neigen ihre Aufgabe und ihren Sinn. Die "unterlegenen" Anteile wandern eher ins Unbewusste, wo sie wiederum unbearbeitet in einer kindlichen Stufe verharren und sich als infantile und regressive Reaktionen zeigen. Durch einen aktiven Individuationsprozess, der Reflektion und das Ringen um Authentizität beinhalten, können diese unbewussten Teile bearbeitet werden. In unseren Schatten (siehe auch: “Das Böse und unsere Schatten”) können wir die Gesamtheit unserer Anteile und Ausprägungen sehen.

Sind Sie introvertiert? – 10 Merkmale

  1. Um sie herum sind viele Menschen, das strengt Sie an. Ob Fremde, Freunde oder Familie – Sie haben das Bedürfnis, alleine sein zu wollen.
  2. Alleinsein ist wie Urlaub für die Seele. Sie brauchen Zeit für sich, um Ihre Kräfte wieder aufzutanken.
  3. Sie vermeiden möglichst Lärm und Trubel. Für Sie sind geschlossene oder ANC-Kopfhörer ein Muss. Da fühlen sie sich wohler.
  4. Gedanken und Ideen von Mitmenschen lenken Sie von eigenen Gedanken ab. Daher brauchen Sie immer nochmal Zeit, das Besprochene in Ihrer Geschwindigkeit alleine "nach"zu denken.
  5. Sie haben in einer belebten Umgebung wie im Zug oder am Strand Konzentrationsschwierigkeiten. Zum Arbeiten stört Sie schon Musik oder Radio. Sie brauchen absolute Stille.
  6. Um zu lernen, brauchen Sie die Zeit der Beobachtung. Passiv zu beobachten bringt Ihnen mehr als aktiv herumzuprobieren.
  7. Sie pflegen zwar Freundschaften, der Kreis der Vertrauten ist aber überschaubar. Zu denen aber sind Sie treu und beharrlich.
  8. Sie sind gerne alleine und leiden weniger unter Einsamkeit als andere. Sie können sogar alleine in den Urlaub fahren, ohne jemanden zu vermissen.
  9. Sie hängen gerne eigenen Gedanken nach und brauchen keinen, mit dem sie diese teilen können. Andere Ansichten stören zwar nicht, aber lassen ihr Gedankengebäude nicht zusammenbrechen.
  10. Sie überschätzen niemals die Anderen oder Ihr Gegenüber. Das schützt Sie vor vorschnellen Beurteilungen, seien sie sehr positiv oder eben auch negativ.

Fazit

Vielen gilt der introvertierte Typus problematischer als der extravertierte Typus. Doch das täuscht, denn im Gegensatz zu den objektbezogenen Extravertierten kann der Introvertierte viel besser autark sein, sich entwickeln und sein Denken und Fühlen mit sich ausmachen. Er ist auf sich bezogen, was nicht das Ausschließende der Egozentrik meint, sondern eher das stärker Wahrnehmende, ja, das Achtsamere gegenüber seiner inneren Welt voller Gedanken, Gefühle, Empfindungen und Intuitionen. Man kommt schwerer an introvertierte Menschen ran, aber schafft man es erst einmal, ihr Vertrauen zu gewinnen, sind sie treue und gute Freunde, die nicht durch vorschnelle Verurteilungen glänzen oder ihr "Mäntelchen nach dem Winde" hängen.

Aufgabe für Zuhause: Welche introvertierten und extravertierten Anteile entdecken Sie bei sich?

 

Bitte beachtet auch meine Schwerpunktseite: www.musikerberatung-frieling.de.

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