Ich sage dazu nüscht – klug oder passiv-aggressiv?

Wir alle kennen Menschen in unserem Umkreis, die uns auf die Palme bringen. Und das sind nicht nur solche, die offen aggressiv oder cholerisch sind. Sondern da gibt es noch die anderen, die immer irgendwie angefressen, patzig oder trotzig scheinen, die “ja” sagen, aber anscheinend “nein” meinen. Und das macht sie so schwierig einzuschätzen. Man kann machen, was man will, es scheint immer das Falsche zu sein.

Nehmen wir ein Beispiel aus dem Orchester:

Eine neue Kollegin sitzt als 2. Hornistin neben dem Solohornisten. Sie hat das Probespiel gewonnen und beginnt nun ihr Probejahr. Nach einer Probe sagt ein Kollege zur ihr: “Morgen zieht Carsten um, kommst du auch zum Mithelfen?” “Ja, natürlich, wieso fragst Du, sehr gern…” Gesagt, getan. Es ist der nächste Tag. Die neue Kollegin ist nicht da. Wieder einen Tag darauf fragt man sie, warum sie nicht da gewesen wäre. “Ach so? Das war gestern? Oh, das tut mir leid, das hatte ich dann wohl total missverstanden, das war aber wirklich sehr dumm von mir”

oder:

In einer Probe sagt der Solohornist zu ihr, sie solle bitte etwas schneller, also sein Tempo spielen und etwas lauter einsetzen. Sie guckt demonstrativ weg und tutet ins Horn, dass alle aufschrecken. Dann treibt sie mit ihrem Tempo die ganze Gruppe. Nachgefragt sagt sie: “Ja, also ich habe nur gemacht, was du gesagt hast, also was denn nun, ich sollte doch schneller und lauter spielen, du musst mir das schon genauer sagen. Ich mach ja anscheinend alles falsch.” Dann schluchzt sie. Später in der Kantine sagt sie zu einem jungen Kollegen aus den Geigen: “Also mein Solohornist ist ganz schön gemein, aber der sitzt da ja auch seit Jahren und will uns kleine Anfänger nur fertigmachen, wahrscheinlich braucht er das für sein Ego. Aber das bleibt unter uns, ja?” usw.

Und? Kennen sie ähnliche Fälle?

Die passiv-aggressive Persönlichkeitsakzentuierung

Diese Verhaltensweisen sind nur zwei Beispiele aus einem ganzen Blumenstrauß latenter Aggressionen. Man nennt diese Eigenschaft auch passiv-aggressiv. Diese Menschen mögen keine Neuerungen, denen sie mit Selbstverantwortung begegnen müssen, hassen Anforderungen und empfinden Aufgaben, Aufträge und Verpflichtungen als anmaßend, total belastend und unfair. Es ist einfach eine große Unverschämtheit, dass irgendjemand etwas von ihnen will. Das führt zu vielen Klagen über diejenigen Personen, die einem so etwas zumuten. Hintenrum führt das zu übler Nachrede und Lästern gegenüber Chefs oder Vorgesetzten und allen, die etwas “verlangen”. Sie sabotieren damit immer Teamgeist, gemeinsame Ziele und die Harmonie einer Gruppe. Sie “vergessen”, lästern, missverstehen und schweigen so lange, bis andere gegeneinander aufgehetzt sind und man nicht mehr “schuld” ist. Sie schüren damit Ärger, der von einem selbst ablenkt, denn sie haben auch meistens Angst.

Typische Merkmale passiv-aggressiver Persönlichkeitsakzentuierungen:

  • Verabredungen sind Missverständnisse

“Ach, wir hatten um neun gesagt? Oh, das hatte ich dann wohl missverstanden, ich dachte NÄCHSTE Woche…”

  • Komplimente sind Kritik (vermeintlich humorvoll)

“Ja, also dafür, dass du hier so auf dem Präsentierteller sitzt, hast du gar nicht schlecht gespielt, wirklich.”

  • Schweigen ist Reden

Statt einer Antwort, warum etwas so oder so sei, dreht derjenige sich beredt weg.

  • Schuld sind immer andere

“Also wenn der immer anders spielt, kann ich ja nicht wissen, welches Tempo er HEUTE meint…”

  • Vermeintlich recht geben

“Natürlich, wie du willst, dann machen wir das eben so.”

Letztendlich ähneln einige Verhaltensweisen einer passiv-aggressive Persönlichkeitsakzentuierung stark denen der narzisstischen Persönlichkeitsakzentuierung, da das passiv-aggressive Verhalten auch eine Form der Bestrafung für andere sein kann, um sich selbst grandioser zu fühlen.

Woher kommt das?

Wenn man sich auf die Suche nach Ursachen solcher Persönlichkeitsakzentuierungen begibt, kommt man eigentlich nie an Kind- und Jugendzeit vorbei. In unserem Falle ähneln viele dieser Menschen trotzigen Teenagern, scheinen also noch in unreifen Persönlichkeitsentwicklungen zu stecken. In ihrer Jugend haben sie häufig die Erfahrung gemacht, dass ihre Grenzen nicht beachtet wurden. Ein “Nein” in der Kindheit und Jugend brachte nicht den gewünschten Effekt. Da wurden private Bereiche empfindlich verletzte (ohne Klopfen ins Kinderzimmer gehen, Tagebücher lesen, Handys kontrollieren, mit besten Freunden über das Kind reden). Dann wurde wahrscheinlich wenig bis nicht hingehört, wenn man als Kind einen Wunsch hatte. Klassisches Erziehungsverdikt war: “Solange du die Beine unter meinen Tisch stellst, so lange machst du, was ich sage.” Wünsche wurden aber nicht nur nicht erfüllt, sie wurden aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht erst wahrgenommen. Grenzen wurden von Erwachsenen diktiert, aber selber nicht eingehalten. Die Erfahrung lehrte sie, dass ein “Nein” als Grenzschutz nicht funktionierte, sondern nur das Abducken, das sich Verschleiern, das inkongruente Signal und die Verhüllung von Persönlichkeitsanteilen. Angepasstsein wurde mit Schutz und Nähe belohnt und half allein, irgendetwas wie Privatsphäre zu behalten.

Diese schlechte Erfahrung mit Autoritäten erzeugt bei allen nun im Erwachsenenalter ankommenden Aufgaben und Ansprüchen sofortige Reaktanz, man kann auch sagen Bock, Trotz und Widerspruch.

Was kann ich tun?

Man sollte sich dessen bewusst sein, dass passiv-aggressive Persönlichkeitsakzentuierungen biographisch früh (tief) verankert sind und daher nur mühsam korrigiert werden können.

  1. Was man auf alle Fälle nicht tun sollte; sich provozieren lassen. Das klingt banal, ist aber sehr schwierig. Denn das wäre die Spiegelung der versteckten Aggression des Anderen. Bei immer wiederkehrenden abwehrenden und verzögernden Reaktionen, die einen immens ärgern, sollte man sich dessen ganz bewusst sein und nicht darauf reagieren. So schön auch das Hineinversetzen von Situationen anderer ist, wäre es hier besser, ganz bei sich zu bleiben. Akzeptieren sie keine Entschuldigungen, bewerten sie ausschließlich reale Leistungen und keine bloßen Absichtserklärungen.
  2. Benennen Sie die inkongruente Kommunikation: “Du sagst, es sei ok, aber sehe doch, dass es nicht ok ist. Was meinst du wirklich, sage es mir bitte so, dass ich es verstehe.” Nicht lockerlassen. Ermuntern Sie, dass man auch eindeutig sagen kann, was man will.
  3. Fordern Sie Aufgaben oder Verantwortlichkeiten ein, und knicken Sie nicht vor dem intransparenten Reaktanzverhalten ein. Konfrontieren Sie die betreffende Person auch mit positiven Erlebnissen, dass man sich auf sie verlassen kann.
  4. Geben Sie die Verantwortung auf die eigenen Gefühle immer wieder zurück: “Ich fühle mich nicht missverstanden, und ich bin auch nicht verzweifelt, aber wie ist es bei Dir?” Sie müssen selber die Wut und die vermeintliche Ohnmacht der Entscheidungsfreiheit bearbeiten.
  5. Verbalisieren Sie die Inkongruenz von Nachricht, Reaktion und Tat. Bemerken Sie die Strategie und tolerieren Sie diese nicht. Sprechen Sie alle Unklarheiten an.
  6. Verhandeln Sie klare Positionen und Arbeitsaufträge. Die Person darf sagen, was sie nicht will, muss aber auch machen, was Sie sagen. Grenzen müssen gezogen, aber, ganz wichtig, auch anerkannt werden. Jede solcher Aktionen bedarf eines Feedbacks, wo Sie darauf hinweisen, wie die Grenzen akzeptiert wurden.
  7. Kommunizieren Sie, kommunizieren Sie, kommunizieren Sie. Sprechen Sie alle Unklarheiten und Schwebezustände an, immer wieder.

Und was lernen wir daraus?

Musiker im Probejahr, die Elemente passiv-aggressiver Persönlichkeitsakzentuierung zeigen, sollten sehr genau beobachtet werden. Unter Umständen ist es nämlich egal, was für ein phantastischer Musiker derjenige ist, er kann und wird aller Wahrscheinlichkeit nach den Gruppenzusammenhalt gefährden, Menschen gegen sich und gegen andere aufbringen, Unfrieden züchten und Aggressionen schüren. Denn es ist sehr schwer, einen “trotzigen Teenager” als gleichberechtigten Erwachsenen anzuerkennen. Vielleicht sollten auch solche Tatsachen eine wichtige Rolle dabei spielen, ob man auch nach dem Probejahr noch miteinander musizieren möchte.

Eine typische Alltagsszene zum Schluss:

Johann kommt abgehetzt nach Hause, Mona sitzt auf dem Sofa und daddelt auf ihrem Handy.

Er: “Kannst du bitte nachher noch etwas für uns zum Essen einkaufen? Es ist fast nichts mehr da, ich schaffe es leider nicht.”

Sie: “Ja-ha, aber was denn? Was weiß ich denn, was du gerne essen möchtest. Und was heißt überhaupt ‘etwas zum Essen’...”

Er: “Ganz einfach, Brot, Butter, Wurst und so weiter, Grundnahrungsmittel eben.”

Sie sagt nichts, verdreht die Augen und daddelt weiter auf ihrem Handy. Nach drei Stunden kommt er heim und sieht das Einkaufsnetz auf dem Küchentisch liegen: eine Butter, ein Mischbrot, eine Packung Dauerwurst – das war’s.

Er: “Danke, aber ist das alles?”

Sie: “Du hast gesagt, ich solle Brot, Butter und Wurst kaufen. Das habe ich gemacht, was ist denn jetzt wieder? Alles was ich mache, ist ja sowieso verkehrt…”

usw.

 

Bitte beachten Sie auch meine Schwerpunktseite: www.musikerberatung-frieling.de.

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