Ich habe Stress – wirklich?

“Ich habe solch einen Stress.” So oder so ähnlich tönt es tausende Male pro Tag. Millionen von gestressten Menschen irren überlastet durch die Straßen. Ob im Verwaltungstrakt eines Amtes oder im Hörsaal einer Universität, ob im Kindergarten oder Altenheim, Stress dringt durch alle Poren der Gesellschaft, erreicht alles und jeden und macht selbst vor Langzeitarbeitslosen keinen Halt. Doch warum ist das so? Meinen alle das Gleiche, oder geriert Stress nur zu einem Neologismus für zu viel zu tun?

Stress mal ganz allgemein

Also rein wörtlich genommen (lateinisch: stringere – anspannen) ist Stress ein Ausdruck dafür, dass man oder etwas beansprucht wird. Wenn man einen Blechlöffel ständig hin und her biegt, erlebt dieser Stress durch die äußere Belastung des Biegens. Und irgendwann bricht er, der Löffel konnte auf Dauer dieser Belastung nicht standhalten. Bei Lebewesen entstehen diese Belastungen beispielsweise durch äußere Reize wie Licht, Wasser, Wind etc. Aber auch innere Reize können belasten wie Trauer, Wut und Angst. Reaktionen auf diese Belastung sind verschieden. Man kann auf Dauer aufgeben wie ein Löffel, aber auch weglaufen, kämpfen, brüllen, oder sich einfach nur tot stellen. Wie groß die Belastung ist und wie die Möglichkeit der Bewältigung ist, hängt natürlich von sehr unterschiedlichen Faktoren ab. In diesem Kontext heißt also: “Ich habe gerade Stress.” nur: “Mich belastet gerade was.” Aber so ist es ja meistens nicht gemeint.

Stress als Gesellschaftsphänomen

Also nochmal zurück zu Belastungssituation. Das Telefon klingelt, der Partner möchte etwas unaufschiebbar Wichtiges besprechen, gleichzeitig klingelt es an der Tür und das Nudelwasser drängt aus dem Topf. Unser Gehirn analysiert nun diese ganzen Anforderungen. Zuhören, “mmh, mmh” sagen geht gleichzeitig. Kurz noch schnell den Deckel vom Topf nehmen auch, aber das Telefon muss halt warten. Nun reagieren Menschen aber meistens nicht ganz so logisch. Denn nicht die äußerlich und hier beschriebenen Anforderungen sind allein belastend, sondern auch das Geräusch, die Tonhöhe, die Frequenz. Es schrillt, zischt, klingelt. Alles Geräusche, die mit “Alarm” verbunden sind. Das kann dazu führen, dass es trotz der logischen und obig eigentlich nachvollziehbaren Abfolge der Problemlösung zu Stress kommt, weil alles gefühlt nicht schnell genug passiert. Denn das Signal “Alarm” braucht absolute Schnelligkeit und genießt die höchste Priorität. Wenn aber genau diese nicht klar ist, sondern die verschiedenen “Alarme” gleichzeitig schrillen, können wir die Belastung der Priorisierung nicht bewältigen und die Anforderung nicht lösen. Nach “Alarm” kommt dann schnell: “Ich schaffe das nicht.” Blutdruck und Muskeltonus steigen, das Herz erhöht seine Schlagfrequenz, und die Verdauung fährt runter. Jetzt erlebt der Körper wirklich Stress.

Stress – ganz klar, Angriff oder Flucht?

Nein, leider ist es nicht so einfach. Natürlich gibt es auch zum Thema Stress mannigfaltige Untersuchungen und Theorien. Und zwar nicht deswegen, weil Selbstverständlichkeiten neue Namen bekommen müssen, sondern weil die physischen und psychischen Reaktionen der Menschen weitaus komplexer in ihrer Vielfalt sind als man bisher gedacht und vielleicht auch manchmal gehofft hat. Denn neben dem ganzen Hype um Work-Life-Balance, Überforderung und Stress sehen Forscher auch die Gefahr einer andauernden Stressbelastung für ganze Bevölkerungsgruppen. Eine Theorie befasst sich bspw. mit der Arbeitsanforderung einerseits und den Entscheidungsspielräumen andererseits. “Stress entsteht diesem Modell zufolge vor allem, wenn die Anforderungen hoch und zugleich der Entscheidungsspielraum klein ist.” Eine andere Theorie meint, dass Stress eine Gefahr für einen Ressourcenverlust ist. Wieder andere sehen im Stress eher die Folge einer nonverbalen Kommunikation zwischen Mensch und Umwelt. Wie auch immer sich diese Theorien im Einzelnen bewahrheiten und ihre ganz eigenen Gesichtspunkte herausarbeiten, der Stress hat meines Erachtens nach noch eine weitere wichtige und ihr übergeordnete Komponente, den Sinn.

Welchen Sinn hat Stress?

Nehmen wir nochmal das obige Beispiel. Mehrere Anforderungen erheben gleichzeitig den Anspruch auf höchste Priorität. Der Entscheidungsspielraum ist zwar relativ groß, aber zeitlich sehr eng. Mit welchem “Recht” priorisiere ich zuungunsten einer Entscheidung. Also wenn ich als erstes zur Tür gehe und öffne, stufe ich sowohl Partner, Telefonat als auch Herd zurück. Mit welchem Recht tue ich das? Erlaube ich mir es eigentlich wirklich, das selbstherrlich zu entscheiden? Ich weiß, dass diese Überlegung seltsam klingt. Aber gerade in der Reflexion von Entscheidungen kommen konjunktivisch grübelnde Elemente auf: “Wäre es nicht besser gewesen, erst den Deckel vom Topf zu nehmen und dann die Tür zu öffnen?”, oder noch ganz anders: “Ne, ich hätte meinem Partner sagen sollen, dass er das bitte zu klären hat, weil ich jetzt in Ruhe telefonieren will.”

Es scheint fast so, als dass wir im Nachhinein unsere Anforderungsreaktion kritisch überprüfen und für nicht ausreichend betrachten. Ähnliche Situationen in der Zukunft könnten also auch diese Erinnerung aufploppen lassen, dass man “damals” nicht “adäquat gehandelt” habe. Neben der Entscheidungs- und Priorisierungsnot tritt also noch die Erlaubnisfrage und der Kompetenzzweifel. Jetzt kann es kein Richtig mehr geben, sondern nur ein: “Wie man’s macht, macht man’s falsch”, aber eben auch weiter: “Macht man’s falsch, man’s auch nicht richtig.”

Vielleicht hat also der uns belastende Stress den transzendentalen Sinn, uns zu zeigen, dass wir uns besser vertrauen lernen müssen, dass wir es können, dass wir Entscheidungen und Vergangenes akzeptieren und auch abhaken müssen. Also dass wir “erwachsen” sind und uns die Erlaubnis geben dürfen, auch “erwachsen” zu handeln, nämlich Verantwortung zu übernehmen. Stress kann also auch durch das Herausreißen aus der Regression entstehen.

Kleiner Stressfragebogen

Ich leide akut unter Stress, wenn sich bei mir in dem Moment folgende Symptome zeigen:

  • Mein Blutdruck erhöht sich.
  • Ich bekomme Verdauungsbeschwerden, bspw. Sodbrennen.
  • Mein Muskeltonus erhöht sich.
  • Ich bekomme Kopfschmerzen.

Ich leide chronisch unter Stress, wenn sich über längere Zeit folgende Symptome zeigen:

  • Meine Libido sinkt, mein Zyklus ist unregelmäßig oder ausgesetzt.
  • Ich nehme zu oder ab, habe öfter Völlegefühl und verdaue schlecht.
  • Ich habe öfter Migräne oder Spannungskopfschmerzen.
  • Ich leider häufiger unter respiratorischen Erkrankungen.
  • Oft erscheint mir alles sehr düster und aussichtslos.
  • Ich habe Schlafprobleme.

Was kann ich machen und was kann ich ändern?

Erkennt und beseitigt die Stressauslöser: Ob ihr eine sehr belastende psychische Situation erlebt oder nicht, hängt sowohl von der Intensität der Situation als auch von der Person ab, die sie erlebt. Überlege dir, ob die belastende Situation geändert werden kann, indem man vielleicht etwas Verantwortung abgibt, die Maßstäbe hinterfragt oder um Hilfe bittet. In unserem Fall wäre das die Hinterfragung der vermeintlichen Dringlichkeit.

Pflegt Familie, Freundschaften und Bekanntschaften: Ein aktiv interagierendes soziales Umfeld kann eine sehr starke Entlastung und Unterstützung sein. Nutzt Freunde und Bekannte, die euch ein offenes Ohr schenken, aber seid auch selbst für deren Sorgen da. Andere werden eher praktisch helfen können, Schränke tragen, auf die Kinder aufpassen oder die Winterreifen wechseln. Wenn die gegenseitige Hilfe ausgewogen bleibt, fördert das nicht nur die Resilienz (man hat durch seine Freunde ja noch ein Ass im Ärmel…), sondern unterstützt den Sinn seines eigenen Lebens und Überlebens. (In unserem Falle könnte der Partner eine Aufgabe übernehmen.)

Achtet auf eine ausgewogene Ernährung: Ja, auch Stress und mangelnde Resilienz haben etwas mit Nährstoffmangel und einseitiger Ernährung zu tun. Bei Belastungssituationen setzt das Zentrale Nervensystem (ZNS) Adrenalin und Cortisol frei, die neben anderen physiologischen Veränderungen den Verdauungstrakt beeinflussen. Akuter Stress kann appetithemmend sein, aber auch zu Heißhungerattacken führen. Ein zu hoher Cortisolspiegel führt meistens zu einer vermehrten Zucker- und Fettaufnahme (der Bildschirm flimmert, es ist nachts um elf, die Pizzakartons stapeln sich auf dem Schreibtisch…). Dass das jetzt nicht unbedingt gesund ist, braucht man nicht näher zu begründen. Aber der Körper braucht dadurch viel Energie, um diese einseitige Ernährung auszugleichen, was ihn zusätzlich belastet. Daher ist es nicht ratsam, dem Stress mit Alkohol, Nikotin oder oben genannten Kohlenhydrat- und Fettbomben entgegenzuwirken. (Leider.) Aber auch hier spielt wieder eine psychische Komponente eine wichtige Rolle. Der fehlende Genuss.

Entspannt die Muskeln und atmet bewusst: Belastungssituationen führen zu Anspannungen des Körpers. Das kann zu Krämpfen, Verspannungen und zu daraus resultierenden Schmerzen führen. Typisch sind Kopf- und Rückenschmerzen. Bei langen Bildschirmsitzungen ist eine immer wiederkehrende Veränderung der Sitzposition hilfreich, vielleicht aller halbe Stunde eine kleine Dehnübung, am Abend ein schönes Bad oder eine Massage. Empfehlenswert ist auch die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobsen: Spannt gezielt einzelne Muskeln an und entspannt diese dann wieder. Am besten, ihr fangt mit den großen und am meisten spürbaren Muskelgruppen an. Spannt euren Po an, haltet diese Spannung kurz und entspannt ihn wieder. Das wiederholt bitte drei Mal. Dann geht es hinab zu den Oberschenkeln, Waden, Füßen und Zehen. Die nächste Muskelgruppe geht von euren Schultern aus und führt über die Ober- und Unterarme zu den Fingern. Zum Schluss übt eure Gesichtsmuskulatur, grimassiert eure Emotionen und entspannt wieder.

Übt einen achtsamen Umgang und meditiert: Jetzt wird’s esoterisch? Mitnichten. Meditation ist eigentlich nur eine kontemplative Zeit mit sich. Meditation gegen Stress wird mittlerweile selbst von der evidenzbasierten Medizin anerkannt und empfohlen. Forschungsergebnisse konnten zeigen, dass eine regelmäßig fokussierte Zeit der Stille und inneren Einkehr den gefühlt psychischen Stress und die daraus resultierende Angst deutlich zu reduzieren vermag. Nimm dir fünf Minuten Zeit für dich, wo dich keiner stört, wo du allein bist und du bestimmst, was jetzt passiert. Konzentriere dich dabei ausschließlich auf das Hier und Jetzt. Erkenne Grübeleien, abschweifende Gedanken und beobachte dich, aber bewerte es nicht. Versuche einfach nur, dich immer wieder auf den Moment des Sitzens zu fokussieren. Doch wie bei jeder Übung, entfaltet sie auch hier erst durch Regelmäßigkeit ihr Potential.

Genießt den Schlaf und gönnt euch Erholung: Was jetzt etwas widersinnig klingt, da Stress ja meistens deswegen entsteht, weil man weniger Zeit als sonst hat, zeigt aber nur, dass Qualität und Quantität zwei völlig verschiedene Paar Schuhe sind. Jeder von uns weiß, dass man zehn Stunden im Bett liegen und sich von einer Seite auf die andere wälzen kann, um dann am Morgen völlig zerschlagen aufzuwachen. Der Schlaf ist unsere wichtigste Erholungs- und auch Verabeitungsquelle. Deswegen sollte man versuchen, eine Schlafroutine zu entwickeln. Das ist zum einen die immer gleiche Zeit, ins Bett zu gehen, zum anderen aber auch eine sich stets wiederholende Imagination. Beispielsweise kann man sich beim Einschlafen einen Ort vorstellen, der einem bekannt und sicher ist. Den malt man sich immer wieder neu aus. Weiterhin ist es natürlich wichtig, mindestens eine halbe Stunde vorm Zubettgehen nicht mehr auf einen Bildschirm zu schauen. Man sollte, wenn möglich, den Night-Shift-Modus bei seinem Smartphone aktivieren, da blaues Licht die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin beeinträchtigt.

Bewegung, Bewegung, Bewegung: Viel Bewegung fördert gesunden Schlaf. Daher sollte man tagsüber auf genügend Bewegung achten. Ungefähr zehntausend Schritte pro Tag sind ein gutes Maß dafür, wieviel man gehen sollte. Auch kann Bewegung Stress direkt abbauen. Gerade in sehr belastenden Situationen ist die Kombination von Bewegung und frischer Luft, am besten Waldluft, sehr förderlich. Es gibt viele Studien darüber, dass nicht nur die Luft an sich, sondern auch die Farbe “grün” gut tut. Schon Naturvideos können bspw. die Stimmung verbessern. Daher ist die Kombination von Bewegung und Natur ein idealer Stresslöser.

Gestaltet eure Freizeit, habt Spaß: Gerade in den momentanen Zeiten fällt es einem oft schwer, den Humor zu behalten oder Freizeitaktionen nachzugehen, die “nur” Spaß machen. Aber genau das ist wichtig. Momente psychischer und physischer Belastung brauchen Momente psychischer und physischer Entspannung. Und dabei helfen Aktivitäten, die einen mental entlasten, einen erfreuen und einen zum Lachen bringen. Freizeit ist ein wertvolles Gut, welches nicht nur die freie Zeit füllt, sondern gleichberechtigt neben den Anforderungen des Alltags stehen sollte.

Beeinflusst euer Denken: Ja, das geht wirklich. Die Grundannahme ist dabei, dass Gedanken unsere Gefühle beeinflussen. Ganz einfaches Beispiel: Du gehst jeden Tag an einem kleinen Kiosk vorbei, an dem es Zeitungen, Getränke und Zigaretten gibt. Und jeden Tag, wenn du daran vorbeieilst, siehst du die gleichen doofen Typen, die nichts zu tun haben und ihr Sozialgeld versaufen. Und du denkst, dass es doch ungerecht sei. Die gammeln die ganze Zeit auf Staatskosten, und du weißt nicht mehr, wo dir der Kopf steht. Man kann sich vorstellen, wie negativ diese Gedanken sind. Denkt man aber mal darüber nach, dass die drei Männer vielleicht früher mal gerne arbeiten gegangen sind, aber es ihre Berufe nicht mehr gibt, dass deren Frauen zu Hause ausgezogen sind, weil sie ihren Alkoholkonsum nicht mehr in den Griff bekommen und sich nun nur noch hier treffen, weil es ihre einzige soziale Bezugsgruppe ist, und vergleicht man sich dann mit ihnen, fällt es leichter, weniger missmutig und böse zu sein. Vielmehr hat man Mitleid und merkt, wie gut es einem geht. Vielleicht ahnt man sogar, dass man selbst in seinem Leben etwas ändern muss, um ihnen nicht nachzufolgen.

Fazit

Die soziale Gemeinschaft, die Akzeptanz von Veränderungen und Krisen, die Selbstreflexion, der Bewegungsausgleich und die Achtsamkeit sind nur einige Punkte, die dem Stress machtvoll entgegentreten können. Aber vor allem sollte man sich fragen, ob man nicht einfach nur viel zu tun hat, oder wirklich an Stress leidet. Und eigentlich ist es gar nicht schwer. Der Mensch ist meistens in der Lage, sehr gut zu wissen, was ihm gut tut. Man muss nur lernen, seinem Körper zuzuhören.

 

Bitte beachtet auch meine Schwerpunktseite: www.musikerberatung-frieling.de.

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