Ich bin echt – echt jetzt?

Jeder von uns kennt das Wort "Authentizität", und jeder hat schon ein- oder mehrmals darüber nachgedacht, was das denn eigentlich sei, "echt" zu sein. Und immer mehr scheint es so, als trüge dieses Fremdwort die goldene Kugel zum Glück, zur Zufriedenheit und zum Sinn des Lebens in sich. "Sei authentisch!", klingt oft so, als wenn man dann glücklich, zufrieden, seelisch gesund und ausgeglichen ist und viele Freunde bekommt. "Sei authentisch", klingt aber auch so, als wenn man bisher die ganze Zeit log, sich verbog, schauspielerte oder sich maskierte. Warum ist Authentizität so wichtig und scheint vielen der Schlüssel für die seelische Gesundheit zu sein?

Authentizität ist Menschenkunde, nicht Ansichtssache

Für Carl Rogers war die Authentizität der Kern des Lebens. Denn sich selbst treu zu sein und seine Werte und sein Wesen so zu kennen, dass sie "kongruent" mit dem eigenen Leben werden, galt ihm als das wahre Glück. Aber er meinte damit nicht das hedonische Glück, ein so angenehmes Leben wie möglich zu führen, sondern das eudaimonisches Glück, sein eigenes Potenzial bestmöglich ausgeschöpft zu haben. Für Abraham Maslow, den die meisten bestimmt wegen seiner Bedürfnispyramide kennen, war die Authentizität kein Luxus oder eine besonders freiheitliche Spielart, nein, er sah durch die unspezifische Determination des Menschen die Authentizität als einzige Richtschnur an, sprich, nur unser Streben, uns zu verbessern, unsere Möglichkeiten und Potenziale zu kennen und auszubauen, schult uns, uns selbst zu erkennen und eine Persönlichkeit zu entwickeln.

Authentizität ist Prozess, nicht Ergebnis

Authentizität war also für viele, wenn man so will, der Inbegriff des "richtigen" Berufes: Ein Musiker muss eben Musik machen, ein Buchhalter rechnen usw. Das Problem dabei ist, dass in solchen Kategorien zu denken doch arg scherenschnittartig anmutet, denn ungefähr 99% aller Berufe sind vielfältiger und unklarer. Aber der Kern ist der, dass Authentizität  nicht das Ergebnis bedeutet, sondern der Weg: Ich muss also herausbekommen, ob ich Musiker bin, und wenn ich die Musikalität, das Talent des Hörens und des Musizieren in mir entdecke, dann sollte ich dieser Begabung, dieser Neigung Rechnung tragen, dieses Potenzial fördern und mich nicht davor verschließen. Das meint die humanistische Betrachtungsweise von Authentizität. Es geht in erster Linie also darum, dass erfüllte Authentizität nur ein andauernder Prozess sein kann.

Authentizität ist Notwendigkeit, nicht Luxus

Wir hatten ja schon die Bedürfnispyramide von Maslow erwähnt. Ganz oben steht bei ihm "Selbstverwirklichung". Im Prinzip geht es da um Authentizität. Da könnte man natürlich denken, Authentizität ist gleichbedeutend mit einem Luxus westlicher Wohlstandsländer, die  sich diese Selbstverwirklichung leisten können. Doch die Psychologen wie Rogers oder Maslow gehen davon aus, dass der Mangel authentischer Lebensweise zu psychischen Problemen führt. Also ganz einfach gesagt, wenn man sich immer verbiegt, wird man krank. Beispielsweise baut die "klientenzentrierte Gesprächstherapie" von Carl Rogers auf einer Beziehung zwischen Therapeuten und Klienten auf, in der er ganz selbst sein kann und sich voll und ganz akzeptiert sieht, mit allen Stärken, aber auch Schwächen. Diese ganz klare Positionierung, dass der oben beschriebene Prozess keine Spielwiese für die Freizeit ist, sondern unbedingter Bestandteil des alltäglichen Lebens sein sollte, macht einmal mehr klar, dass Authentizität viele andere psychologischen Schwerpunkte in sich trägt: Achtsamkeit, Reflexion oder Wahrnehmung des Inneren Kindes,

Authentizität ist Ich-sein, nicht Anders-sein

Nun wissen wir oft ziemlich sicher, was nicht authentisch ist. Spannender wäre es aber, wie man herausbekommt, was authentisch ist. Als erster wichtiger Indikator bei sich selbst ist eine wesentliche Frage: "Will ich nicht oder kann ich nicht?" Was meine ich damit: Jemand möchte sich mit mir treffen, ich sage zu. Dennoch spüre ich meinem Bauchgefühl nach und erlebe relativ schnell eine klare Entscheidung. Ich sagte zu, weil ich nicht absagen konnte, um ihn nicht vor den Kopf zu stoßen. Gleichzeitig mache ich mir bewusst, dass ich ihn eigentlich nicht treffen wollte. Allein diese Erfahrung und Reflexion schult uns, unserem Bauchgefühl mehr zu trauen und uns selbst mehr zuzuhören. Das Ergebnis kann dasselbe sein. Ich treffe mich also mit diesem Menschen, und ich bin in keiner Weise unauthentisch. Denn ich weiß jetzt, dass ich mich nicht mit ihm treffen wollte, aber aus anderen Faktoren heraus dennoch zusagte. Ich mache mir nicht vor, es angeblich oder eigentlich gewollt zu haben. Mir ist bewusst geworden, was ich wirklich wollte oder eben nicht. Das ist der Kern der Authentizität, nicht die Tat, sondern die Wahrnehmung. "Ja, ich will", ist eben nicht nur die vielbeachtete Frage am Traualtar, sondern auch die alltägliche Frage an uns selbst. Beginnen wir also damit, aktiver unsere Entscheidungen zu treffen: "Ich will nicht!" statt: "Ich kann nicht!" ist daher ein guter Anfang, authentischer zu werden.

Authentizität ist Erfahrung, nicht Lehre

So und nun müssten doch die vielen Tipps und Aufzählungspunkte kommen, wie man mehr Authentizität erlangt. Aber das fehlt hier, weil es unlogisch wäre. "Sei du selbst!" ist nämlich genauso problematisch wie: "Sei authentisch!" oder: "Lass Dich nicht beeinflussen!" Das Problem der wahren Authentizität ist immer der wirklich eigene Weg, der eben nicht vorgegeben sein kann. Es ist der Weg, der selbst erarbeitet und selbst erlebt werden muss. Es ist der Weg, den jeder von uns ganz eigenständig zu gehen hat. Hilfreich sind immer wieder Fragen an sich selbst und Wahrnehmungen seiner Reaktion gegenüber anderen Menschen, Betrachtungen und wertfreie Beobachtungen. Nicht das “Ich muss das und das machen…”, sondern das “Ich will das und das nicht machen…”, ist zu hinterfragen. Äußere Zwänge werden immer da sein, aber die persönlichen Einstellungen dazu sind verschieden. Diese erst einmal wahrzunehmen, ihre Herkunft zu ergründen, ihre Abhängigkeiten zu erforschen und schlussendlich sie zu variieren oder gar zu ändern, kann eine Aufgabe für mehr Authentizität sein.

Beispiel statt Fazit

Knut-Thorben Schnulzki sitzt im Feinripp vor der Kaufhalle und rülpst. Man geht vorbei und guckt pikiert weg. Ist Knut-Thorben nun authentisch? Das ist von außen schwer zu beurteilen. Wenn er sich sagt: "Ich will nicht angepasst sein." statt "Ich kann nicht so sein wie die anderen.", dann erklingt ein Tönchen Authentizität im Rülps. Man sieht, Authentizität hat nichts mit Fragen des guten Geschmacks, der Etikette, der guten Sitte oder der Höflichkeit zu tun. Denn diese ganzen gesellschaftlichen Verabredungen für eine harmonische und funktionierende Gemeinschaft sind Kompromisse individueller Authentizitäten, ohne die man nicht zusammen leben kann. Denn Authentizität ist keine Entschuldigung für Unverschämtheiten oder Beleidigungen. Aber heute ging es nicht um Gemeinschaft mit anderen, sondern um Gemeinschaft mit sich selbst. Und da gibt es noch vieles zu entdecken.



Bitte beachtet auch meine Schwerpunktseite: www.musikerberatung-frieling.de.

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