Hilfe, ich bin nicht kritikfähig

Unqualifizierte Kritik begegnet uns jeden Tag. Ob unqualifiziert als Blick, bloßes Murren oder gar als Anschnauzer, irgendwas ist immer, was anderen nicht passt. Kritik begegnet uns aber auch qualifiziert und als Mittel der Erziehung und Lehre. Gerade in der Ausbildung nimmt sie einen großen Raum ein. Kritik ist sozusagen der Motor der Verbesserung. Doch vieles dahinter scheint Theorie zu sein, wenn man sich selbst einmal eingesteht, wie schwer es einem fällt, Kritik wirklich anzunehmen oder unemotional aufzunehmen. Doch das kann man lernen.

Die zwei Seiten der Kritikfähigkeit

Die Überschrift scheint janusköpfig zu sein. Denn zum einen geht es darum, dass man als nicht kritikfähig gilt, wenn man sie von anderen nicht annehmen kann und sehr emotional und ausfallend reagiert, zum anderen aber geht es darum, dass man nicht fähig ist, Kritik so zu äußern, dass der andere etwas davon hat, also sie annehmen kann und sie versteht. Immer wieder erlebe ich Menschen, die eher meckern als kritisieren, eher Unmut zeigen, als Veränderungen wünschen oder eher beleidigen als hinterfragen. Kurz: Kritikfähigkeit ist die Schwierigkeit, sowohl zu kritisieren als auch sich kritisieren zu lassen.

Doch heute und hier betrachten wir nur die Seite der Kritikannahme.

Kritikfähigkeit und Kindheit

Als Kind ist man abhängig von seinen Eltern. Und das bezieht sich nicht nur auf die physiologischen, sondern auch auf die Sicherheitsbedürfnisse. Wenden sich die Eltern von einem ab, ist man existenziell bedroht, ja, nicht überlebensfähig. Dieses tiefe instinktive Wissen beeinflusst die Entwicklung des Kindes. Macht es nun Fehler, kommt es häufig zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Eltern, die diese Fehler oft mit Liebesentzug sühnen. Sie sprechen nicht mit dem Kind, sie ignorieren seine Bedürfnisse, sie agieren nur auf der Sachebene etc..., das heißt, Fehler werden mit einer charakterlichen Infragestellung und einer Persönlichkeitsabwertung bestraft.

Kritik und Abwertung

Was aber so krass klingt, ist uns im Alltag selten bewusst. Wer kennt das nicht, das Kind kleckert mit dem Eis die eben erst frisch angezogene Bluse voll: “Ach, Susanne, du bist aber ungeschickt, pass doch auf. Dann gibt es eben kein Eis mehr, wenn das nie klappt.” Harmlos? Ja, aber nur wenn diese Kritik nicht redundant wird und schon, bevor man die Eistüte in die Hand bekommt, kritische Augen auf einem ruhen, so nach dem Motto: ‘Bestimmt kleckert die gleich wieder.’ Oder noch schlimmer, wenn das einmalige Kleckern zum immerwährenden Zustand hochstilisiert wird: “Siehste, Susanne, das war ja klar, du lernst das nie, immer kleckerst Du.” Denn Generalmisstrauen und Abwertung hinsichtlich gewisser Fertigkeiten können internalisiert werden in: 'Ich kleckere immer, ich werde das auch nie mehr ändern können. Ich bin ein Versager, ein Tollpatsch und ein ungeschickter Mensch, der seine Eltern enttäuscht.’ Ich habe oben mal die Worte unterstrichen, die besonders problematisch sind, nämlich die Verallgemeinerungen und temporalen Adverbien, die etwas als absolut erscheinen lassen. Doch betrachten wir noch ein anderes Beispiel:

Der junge Student

Der kleine Junge tollt durch den Garten und schießt mit dem Ball eine neue Terrakottastatue kaputt. Seine Mutter ist Bildhauerin und hatte sie gerade vollendet und aufgestellt. Sie ist wütend, verzweifelt und reagiert postwendend. Sie haut ihm eine runter und brüllt ihn an: “Was bist du für ein böses und schreckliches Kind. Missratener Balg. Niemals passt du auf, alles ist dir egal. Dein Spaß steht an vorderster Stelle. Alles machst du immer nur kaputt.” Dann kommen noch Verallgemeinerungen wie: “Ich habe dir schon tausendmal gesagt, du sollst hier nicht spielen, du hörst nie zu, du denkst nur an dich.” Sie steigert sich immer mehr hinein und vermutet noch, dass er das extra gemacht hat, um sie zu ärgern. Ende vom Lied, er hat Hausarrest, seine Mutter redet mit ihm eine Woche kein Wort. Das wiederholt sich noch einige Male, oft auch weniger dramatisch. Und jedesmal, wenn er einen Fehler macht, sich tollpatschig zeigt oder nur ungestüm ist, hört er diese oben erwähnten Verallgemeinerungen und temporalen Adverbien, nämlich dass er IMMER ungeschickt sei, sich NIEMALS beherrschen könne und NIE an andere denkt, sondern IMMER nur an sich…

Der Junge wird groß, er studiert Musik und bekommt eines Tages von seinem Lehrer gesagt, dass sein Konzert wie ein Schülervorspiel klinge und er viel zu zurückhaltend spiele, dass er mal aus sich herauskommen müsse. Weiter geht es um die permanent wahrnehmbare Unsicherheit, die wiederum Unsicherheiten provoziert. Er müsse endlich mal anfangen, intelligenter zu üben und sich mehr auf seine motorischen Fähigkeiten zu verlassen. Wenn sich der Knoten nicht bald löse, sähe er für eine feste Stelle schwarz.

Diese Kritik löst im jungen Erwachsenen eine abgrundtiefe Verzweiflung aus. Der junge Student senkt seinen Kopf, wird feuerrot und schämt sich sehr. Er kann seine Tränen nicht zurückhalten, er sagt nichts, aber er weiß, dass er wieder versagt hat, und zwar auf der ganzen Linie.

Wie hat er Kritik in der Kindheit erfahren?

Gehen wir noch mal 15 Jahre zurück in den Garten der kaputten Terrakottafigur. Die verallgemeinernde Kritik, das Generalmisstrauen und die immer wieder bei Fehlern und Missglücken verhängte Strafe des Liebesentzuges hat den Jungen geprägt. Liebesentzug bedeutet Existenzangst. Und mit dieser Angst spielt der Erwachsene innerhalb seiner Erziehungsmethoden. Aber das Auslösen von existenzieller Angst und Bedrohungsgefühlen als Waffen der Eltern zu bezeichnen, wäre natürlich nicht fair. Denn ganz sicher geschieht das sehr selten bewusst und wurde von mir nur sehr zugespitzt geschildert, aber dennoch kann diese Art der Kritik den Grundstein für eine Kritikschwierigkeit im Erwachsenenalter legen.

Wie hat er Kritik in der Kindheit angenommen?

Der Junge erfuhr über sich, dass sein allgemeiner Charakter nicht liebenswert ist und nur ohne Fehler akzeptiert wird. Das heißt, dass er, um zu überleben, diese “Fehler” unbedingt vermeiden muss, weil er sonst “ausgestoßen wird”. Diese Existenzangst führt zu einer Deprivationsvermeidung, die sich in Perfektionismus hineinsteigern kann. Die Angst vor Kritik und Abwertung ist übermächtig.

Nun bekommt er aber diese oben beschriebene Kritik seines Hauptfachlehrers. Aber er übt doch schon 7 Stunden pro Tag, er ist immer pünktlich, leistet sich niemals nur eine Schludrigkeit, führt ein minutiöses Übetagebuch und macht alles, was man ihm sagt. Und dann das. Er hört: “Ich bin unmusikalisch und unbegabt, ich bin zu schlecht für diesen Beruf.”

Es ist die Spiegelung der Deprivation aus seiner Kindheit, wo er herumtollte und dadurch existenziell bestraft wurde. Denn jetzt tollt er eben nicht, nein, NIE mehr, er ist IMMER brav, angepasst und achtet akribisch darauf, NIEMALS anzuecken oder Anlass für Kritik zu geben. Denn diese Angst ist übermächtig. Also ist die Kritik eines Menschen, dem er vertraut, niederschmetternd und wieder, wenn man so will, existenziell bedrohend.

In diesem Moment, wo er den Kopf senkt, feuerrot wird und weint, ist er wieder der Junge, der Angst hat und verzweifelt ist.

Was kann ihm helfen?

In allererster Linie hilft es, sich selbst zu hinterfragen, welche dieser internalisierten Glaubenssätze dahinterstecken. Und das funktioniert konkret, wenn man sich bewusst macht, was man zu sich selbst sagt. Hatte die Mutter früher gesagt, dass er ein egoistischer Taugenichts sei, dem das Wohl anderer egal ist, so forsche man mal bei sich selbst, ob nicht die gleichen Sätze in einem auftauchen. Manchmal ist es auch durch die Negation dessen herauszubekommen, z. B. dass man deswegen bei allen Umzügen mithilft, um eben NICHT als “egoistischer Taugenichts, dem das Wohl anderer egal ist” zu gelten. Also glaubt man ja tief in sich, ein solcher zu sein…

Die Angst vor der Abwertung und das Misstrauen zu sich selbst reichen oft aus, diesen Glaubenssatz auszuprägen. Das “Innere Kind” ist eben nicht nur ein psychologisches Modell, sondern eine als real wahrzunehmende Stimme gegenüber sich selbst. Der junge Student spürt Sätze in sich auftauchen wie: “Das ist wieder typisch, du hast es nicht geschafft.”, “Du bist durchschaut, alles war nur Schein, du hast nur so getan als ob.”, “Du bist ein Versager und bleibst auch ein Versager, egal wie du dich anstrengst.”, “Du bist zu dumm zum Üben.”, “Alle anderen können besser spielen als du, häng das Instrument an den Nagel.” Viele dieser Aussagen sind in ihrer Kernaussage Introjekte von echten Aussagen aus der Kindheit. Diese geängelnde Dauerkritik trifft auf die äußere Kritik. Die Fähigkeit, eine sachliche Beziehung dazu einzunehmen, ist nicht vorhanden.

Was kann man ihm raten?

  • Innehalten, einatmen – ausatmen

Hört man eine Kritik, bemerkt man eine emotionale Reaktion bei sich, spürt man zum Beispiel Ablehnung und Wut, dann macht man als erstes – NICHTS.

  • Abwarten, bis die Erregung abflaut

Erst einmal kurz durchatmen, abwarten und spüren, wie die erste emotionale Erregung etwas abflaut.

  • Strukturierung der Nachricht in 4 Ebenen

Dann gehe man die vier Seiten einer Nachricht durch. (Konkreter gehe ich hier in meinem Artikel: “Vier Ohren hören mehr als eins – leider?” ein.)

Doch spielen wir mal diese vier Ebenen der Kritik durch. Natürlich ist es nur eine Lesart, viele andere sind denkbar.

Mein Tipp: Jede Ebene sollte man gründlich durchdenken und auch aufschreiben. Das hilft, Grauzonen zu vermeiden und eine Außensicht zu erarbeiten. Noch hilfreicher kann es sein, wenn man jede einzelne Ebene auch noch zwischen Sender und Empfänger trennt.

Um alle acht Versionen herauszubekommen, lohnt es sich, vorsichtig die einzelnen Punkte nachzufragen.

  • Als erstes schreibt man seine Wahrnehmung der vier Ebenen auf.
  • Dann versucht man, sich in sein Gegenüber hineinzuversetzen und fragt sich, was man an seiner Stelle hätte meinen können.

Es entsteht eine kleine Gegenüberstellung von: “Was habe ich gehört” / “Was hat er gesagt”-Liste.

Man erarbeitet also schriftlich einen Unterschied, den man nun hinterfragt. Und zwar danach, woher er kommt, wo dieser noch auftritt und so weiter. Es kann ja sein, dass der Hauptfachlehrer lügt und nur behauptet, dass er es anders sagen wollte. Das kann man mit anderen Situationen zu anderen Studenten schnell abklären. Aber gehen wir wieder zu unserem Beispiel:

Der Sender (Hauptfachlehrer) möchte in seiner Kritik sagen:

Sachebene: “Du bist zur Zeit für ein erfolgreiches Probespiel nicht gut genug''.

Appellebene: “Übe intelligenter, also höre dir mehr zu, vermeide weniger, vertraue dir mehr, gehe mehr aus dir heraus.”

Beziehungsebene: “Du bist mein Student, weil ich an dich glaube. Ich bin dein Lehrer, mein Job ist es, dich zu kritisieren. Du kannst mir vertrauen.”

Selbstoffenbarungsebene: “Ich habe mehr Erfahrung und weiß, was richtig ist. Ich will dein Bestes und kann es auch erreichen. Meine Methode ist richtig.”

Der Empfänger (Student) hört aber folgendes:

Sachebene: “Dein Konzert klingt schlecht, du genügst nicht, du wirkst unsicher, du kannst nicht richtig üben, du wirst es niemals schaffen.”

Appellebene: “Höre lieber heute als morgen auf, mache was anderes, aber geh.”

Beziehungsebene: “Du hast mich zutiefst enttäuscht. Ich möchte dich nicht mehr in meiner Klasse haben. Ich bin wütend, weil du immer wieder versagst."

Selbstoffenbarungsebene: “Ich weiß, was richtig ist. Ich habe es geschafft. Ich kann es beurteilen. Ich durchschaue dich.”

Als erstes fällt die starke Unterschiedlichkeit der inhaltlichen Aussagen auf. Aber interessant und dabei so fatal ist eigentlich die sehr ähnliche Wahrnehmung der Selbstoffenbarungsebene. Gerade aufgrund dieser Kongruenz wirkt die Kritik so stark. Innerhalb der Selbstanalyse und Hinterfragen der anderen drei Ebenen, warum man die Kritik so stark negativ interpretiert, zeigt sich, dass man auf eigene Glaubenssätze, Überzeugungen und Definitionen stößt, die bestätigt werden wollen und nicht entkräftet werden wollen. (siehe auch dazu meinen Artikel: “Ich denke, also bin ich”)

In mühevoller Arbeit kann es dem Studenten nun gelingen, bisher als sicher geltende Überzeugungen zu hinterfragen und mal eine Ausnahme zuzulassen. Ein erster Weg kann sein, die selbst erarbeiteten Senderebenen als Kritikinhalt zu betrachten (zu glauben gelingt natürlich erst einmal nicht) und sich nach diesen zu richten. Erzielt man eine Änderung in der erneuten Reflektion mit dem Hauptfachlehrer, kann das ein Indiz dafür sein, dass man seine Glaubenssätze falsifizieren kann. Und dieser Erfolg könnte den Studenten motivieren, nicht nur weiterzustudieren, sondern den Wert und den Inhalt einer Kritik zu erkennen.

Fazit

Kritikfähigkeit ist also immer auch eine Frage des Selbstwerts (mehr dazu hier). Sich damit zu beschäftigen heißt daher auch, sich mehr Zeit für den vom Sender gemeinten Inhalt zu lassen. Durch die Überprüfung und Selektion in diese vier Ebenen gelingt es manchmal besser, Kritik von Beleidigungen zu unterscheiden, aber auch sich besser kennenzulernen und zu unterscheiden, was mit einem selbst zu tun hat und was der Sender mir über sich zu sagen beabsichtigt. In unserem Beispiel geht es um eine Ausbildungssituation, die zweifelsohne an der kommunikativen Hürde des Missverständnisses scheitern könnte. Vielleicht von mir überspitzt beschrieben, sei dieses Beispiel dennoch als kleiner Denkanstoß gedacht, wie oft man so etwas selbst erlebt, sowohl von der einen als auch von der anderen Seite aus. Viel Spaß beim Entdecken!


Bitte beachtet auch meine Schwerpunktseite: www.musikerberatung-frieling.de.

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