Die Angst und ihre Schatten

Wir alle haben schon einmal Angst gehabt, z. B. als Kind vor dem bösen Onkel oder als Erwachsener vor dem Chef. Aber wir kennen auch viele anderen Arten von Ängsten: Angst vor Tieren, Angst vor Menschen, Angst vor Situationen. Es gibt die Angst vor der Zukunft, die Angst vor Schmerzen und noch viele tausend weitere Arten und Formen. Angst gehört zum Leben dazu, Angst ist demzufolge ein Begleiter, der wichtig und notwendig ist. Aber Angst ist auch ein Symptom intrapsychischer Konflikte, die viel über uns verraten.

Realistische und neurotische Angst

In der von Freud initiierten Psychoanalyse und den daraus entwickelten psychodynamischen Therapieverfahren spielt Angst ein sehr wichtige Rolle. Denn sie ist oft die Determinante der Pathogenese einer psychischen Auffälligkeit oder Störung. Schon vor hundert Jahren wurde die Angst (oder besser gesagt der Angstaffekt) als Warn- oder Gefahrensignal verstanden, der adaptive Verhaltensweisen evoziert. Sehe ich im Wald eine aggressive Bache, die ihren Nachwuchs schützen will, kann mein Angstaffekt dazu führen, dass ich maximale körperliche Kraft habe, um wegzurennen oder anzugreifen. (Ob es klappt, bleibt offen…) Bei diesen lebensbedrohlichen Situationen ist die aufkommende Todesangst also “angemessen” und realistisch nachvollziehbar und notwendig. Anders hingegen sieht es mit stark empfundenen Ängsten aus, die ohne objektivierbare äußere Bedrohungen entstehen. Diese neurotischen Ängste treten oft bei Phobien auf. Die bewusst wahrgenommene äußere Bedrohung kann dabei symbolisch für eine innere Bedrohung stehen.

Angst vor Triebimpulsen

Aber was sind eigentlich intrapsychische Bedrohungen? Tiefenpsychologisch können diese beispielsweise von triebhaften Wünschen, die äußeren Normen vehement widersprechen,  hervorgerufen werden (Konflikt Es ./. Über-Ich). Um diese Triebwünsche zu unterdrücken, bedarf es der Abwehr. Denn der intrapsychische Konflikt wird als Bedrohung empfunden. In diesem Falle kann der Abwehrmechanismus der Verschiebung greifen, der diesen Konflikt nach draußen auf ein harmloses Objekt verlagert. Dadurch kann es zu seltsamen Situationen kommen, in denen profane Dinge Angst auslösen, die von Dritten als nicht nachvollziehbar erlebt wird. Denn diese Angst ist oft nur das Bild einer vom Ich antizipierten Gefahr der eigenen Traumatisierung durch innere Triebimpulse, die entweder durch die eigene Gewissensinstanz oder durch eine erwartbare Bestrafung unbedingt zurückzuhalten sind und dadurch zu evidenten Konflikten führt.

Angst vor Bindungsverlust

Neben dieser oben beschriebenen quantitativen Aussage (Angemessenheit und Intensität) kann der Angstaffekt aber auch qualitativ differenziert werden. Tiefenpsychologisch gesehen durchlaufen wir Menschen phasentypische Konflikte, die demzufolge auch zeitspezifische Ängste entwickeln. Implizit kann man also bei Erwachsenen und ihren Ängsten auf unbewältigte phasentypische Konfliktsituationen schließen. Ein weiterer wichtiger und damit nicht zu trennender Punkt ist die behaviorale Ausdifferenzierung durch das Bindungsverhalten. Negative Erfahrungen über soziale und emotionale Reaktionen des Bindungsobjekts, also bspw. der drohende Verlust der Bindung des Säuglings von der Mutter, prägen anscheinend maßgeblich spätere Angstaffekte. Das Zeigen der Angst des Säuglings (das Schreien) soll dabei die drohende Trennung (von der Mutter) vermeiden helfen. Die Ängstlichkeit des Säuglings initiiert bei der Mutter in der Regel ein verstärktes Fürsorgeverhalten. Angstaffekte dienen also auch der Kommunikation.

Angst als Bindungserfahrung

Unbestritten sind frühe Beziehungserfahrungen prägend, da sie sich intrapsychisch in der affektiv-kognitiven Wahrnehmung von Fremd- und Selbstbild niederschlagen. (Ich lerne mich so zu sehen, wie ich erlebt habe, dass andere mich sehen.) Das beinhaltet keine Wertung in moralischer Sicht, aber legt natürlich die Tatsache nahe, dass unsichere Bindungserfahrungen und gestörte Objekt- und Selbstrepräsentanzen auch ein unsicheres Selbstbild evozieren. (Lässt die Mutter den Säugling allein, wenn er gerade herumkrabbelt und seine Umgebung erkundet oder fremde Menschen sieht und dabei Angst empfindet, dann kann später Autonomie und Alleinsein als bedrohlich empfunden werden.) Neben genetischen Dispositionen kann Ängstlichkeit also auch Ergebnis frühkindlicher Bindungserfahrung sein, und das bis zu manifesten Angsterkrankungen.

Schutz und Geborgenheit

Viele Menschen, die Angst erleben, sind in übergroßem Maße auf Schutz und Geborgenheit angewiesen. Doch nicht immer sind es andere Menschen, die das geben können. Auch Tiere oder symbolische Objekte sind dafür geeignet. Schon im Kindesalter gibt der Lieblingsteddy Geborgenheit und ist kommunikative Ersatzmutter und Geschwisterchen. Oft ist der Teddy dazu noch Projektionsfläche aller Arten unverarbeiteter Affekte und damit auch Spiegel der intrapsychischen Konflikte des Kindes. Der Teddy vertritt damit die nicht verfügbare Mutter und tritt als Übergangsobjekt erst im Erwachsenenalter in den Hintergrund. Auch hier können Rückschlüsse auf unbearbeitete Konflikte und eine übergroße und infantile Abhängigkeit von schutzgebenden Personen gezogen werden, wenn Erwachsenen nachwievor diese Übergangsobjekte als sehr wichtig erachten.

Angst und Abwehr

Kommt es zu neurotischen Symptomen der Angst (also die Angst, die unverhältnismäßig gegenüber einer realen äußeren Bedrohung scheint), bspw. Zittern und Schweißausbruch vor dem Betreten des Fahrstuhls, dann bleibt die eigentlich auslösende Ursache unbewusst. Der Fahrstuhl ist nur Stellvertreter eines unbewussten intrapsychischen Konfliktes. Dieser vor allem in der Kindheit erlebte Konflikt wird aus der damaligen Kind-Perspektive erlebt (Regression). Durch die daraus resultierende Manifestierung von Angst (man kann den Konflikt nicht lösen, man ist gerade “Kind”), braucht man nun dringend Abwehrmechanismen, die diesen Konflikt so regulieren, dass man sich seelisch wieder stabilisiert (z. B. komplette Verdrängung). Gelingt das aber nicht, weil der Reiz zu stark ist, dann kann es durch die Kombination von Triebimpuls und Abwehr zu neurotischen Ersatzhandlungen kommen. Wenn auch das nicht hilft (Ich muss immer dreimal gegen die Wand schlagen und laut “flikflak” rufen, ehe ich einen Fahrstuhl betrete…), durchbricht die Angst schrankenlos und ungerichtet alle Abwehrversuche und zeigt sich oft als Form einer Panikattacke (schwere Angstattacke). In diesem Falle führt die Angst also nicht zu adaptiven Maßnahmen wie Wegrennen oder Kämpfen, sondern manifestiert sich als psychische Dekompensation. In der Folge können sich solche Verhaltensmuster, immer wieder unbewusst angewendet, vertiefen und durch daraus resultierende negative Verstärkung chronifizieren und sich verselbständigen. Generalisierte Angststörungen können die Folge sein.

Phobie und Panik

Die oben beschriebene Angst vor dem Fahrstuhl (die sogenannte Klaustrophobie, die Angst vor geschlossenen Räumen) ist nur eine von früher unzählig beschriebenen und mit komplizierten Namen versehenen phobischen Störungen (z. B. die Coulrophobie, die Angst vor Clowns). Heutzutage differenziert man nur noch in Phobische Störungen, Agoraphobie, Soziale Phobien und Spezifische (isolierte) Phobien. Dazu kommen in der ICD-10 und DIMDI sonstige phobische Störungen und die nicht näher bezeichneten phobischen Störungen.

Beschreiben wir einmal ein Szenario:

Eine Frau mittleren Alters betritt ein Hochhaus und geht wie gewohnt zur Treppe. Sie weiß, dass sie sich in engen Räumen unwohl fühlt und meidet diese entsprechend. Doch ihre Chefin sieht sie aus dem Fahrstuhl und winkt ihr eilig zu, sie solle zu ihr kommen. Einerseits möchte sie aus bekannten Gründen lieber zu Fuß gehen, andererseits ist es ihr peinlich, wie soll sie das der Chefin erklären? Also betritt sie den Fahrstuhl. In dem Moment bekommt sie Atemnot, sie zittert am ganzen Körper. Sie bekommt Panik, ihr Herz rast. Weiß wie die Wand stützt sie sich zitternd ab, sie hyperventiliert. In den nächsten Sekunden erlebt sie lebensbedrohliche Angst.

In unserem Beispiel kommt es zu einem neutralen Reiz, dem Fahrstuhl, der aufgrund weit zurückliegender traumatischer Ereignisse mit einem Panikanfall assoziiert wird. Weiterhin meidet die Frau seit langem schon enge Räume. Demzufolge konditionierte sie die Erfahrung, dass enge Räume die vermeintlichen Auslöser von Angst sind. In der phobophobischen Erwartung betritt sie den Fahrstuhl. Sie weiß, dass sie wahrscheinlich eine Angstattacke erleiden wird, weil sie sie irgendwann einmal in einem engen Raum erlebt hat. (Wir reden in diesem Beispiel bewusst nicht von einer real stattgefundenen Traumatisierung, bspw. einer Vergewaltigung im Fahrstuhl in jungen Jahren etc.) Die daraus kausal falsche Attributierung führt zur operanten Konditionierung und daher auch Generalisierung der Angst.

Hier spielen also mehrere Dinge eine Rolle. Zum einen sollte verhaltenstherapeutisch an der Vermeidung der angstauslösenden Situationen gearbeitet werden. Zum anderen ist es aber ebenfalls wichtig, die Ätiologie der Angstattacken zu ergründen. Ein psychodynamischer Hintergrund könnte beispielsweise sein, dass die Frau sich nicht genug von anderen abgrenzen kann, sich von anderen Menschen zu sehr vereinnahmen lässt und dadurch dieses Unvermögen auf eine Erstickungsangst oder Angst vor Beengung etc. verschiebt. Bindungstheroretisch kann hier eine gewisse Störung der Individuation in frühester Kindheit vermutet werden. Vielleicht haben die Eltern der Frau ihre Privatsphäre nicht genug geachtet? Vielleicht waren sie zu laut, zu präsent oder nahmen ihr Kind nur in der Reaktion auf sie selbst wahr? Alles das sind Fragen, denen therapeutisch nachgegangen werden sollte.

Fazit

Angst hat viele Façetten. Klar, das wissen alle, aber Angst hat noch viel mehr als das: Angst hat komplexe Ursachen. Diesen muss man zunächst auf die Schliche kommen, ehe man wirklich jemandem helfen kann. Angststörungen, Phobien und Panikattacken sind eben nur selten gleich. Sie bedürfen immer einer genauen Anamnese und sollten nicht ausschließlich symptomatisch erfasst werden. Erlebt man bei sich selbst nicht nachvollziehbare Angst oder gar eine Panikattacke, oder weiß man um phobische Reaktionen auf konkrete Objekte, die man bisher tunlichst zu umgehen wusste, so sollte man sich möglichst bald professionelle Hilfe holen. Denn viele neurotische Störungen haben die unangenehme Angewohnheit, sich bei Nichtbehandlung frei zu vermehren und zu verstärken.



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