Das Drama der Luschen

Viele von uns werden sie noch kennen. Die Generation, die alles erlebt hat. Krieg, Vertreibung und Hungersnot, aber auch “die gute alte Zeit”, Fresswelle und Miniröcke, Studentenrevolte und autofreier Sonntag. Doch beim Erzählen verschwimmen uns die Jahre, die Demonstranten von Wyhl sind plötzlich die gleichen wie die Studenten um die Weiße Rose. Und wir beneiden das spannende und abwechslungsreiche Leben dieser Generation. Da war noch was los, die konnten noch was bewegen, ja, die brauchte man eben noch. Und die zogen durch. Und heute? Alles verwöhnt, konfliktscheu und unsicher!?

Der goldene Weg ohne Ziel

Generationskonflikte sind genauso alt wie die Menschheit selbst. Daher ist auch die Ablehnung von tradierten Formen und Ansichten wichtig für die Entwicklung einer eigenen Meinung. Und dennoch ist diese Entwicklung verschieden. Denn dagegen zu sein, bedarf eines festen Gegenübers. Das waren in der Geschichte meistens autoritäre Systeme und moralische Prinzipien. Das heißt, etwas nicht tun zu dürfen, barg viel Potenzial für eine individuelle Entwicklung. Heute scheint es oft so, dass diese “reizenden” Trigger nur noch unzureichend vorhanden wären. Musste man sich zu DDR-Zeiten noch sehr genau überlegen, was man wie schreibt, ist es heute eher die Überlegung, warum man überhaupt schreibt. War es damals schwierig, etwas zu verlegen oder zu veröffentlichen, so ist es heute schwierig, Leser zu finden, die des Geschriebenen bedürfen und es wertschätzen. Also war damals der Sinn vorhanden, nur der Weg dornig und schwer, ist heute der Weg golden und eben, hat aber kein Ziel. Doch woraus entsteht dann die Motivation?

Die Kritik an allem

Die Kritik an den vergangenen Zeiten ist übermächtig, so dass wir heute alles hinterfragen, was damit zusammenhängt. An jeder Autorität wird gezweifelt, jede Begrifflichkeit abgewogen, die Sprache neu aufgestellt, Sprüche und “das sagt man eben so”- Aussagen überprüft. Kritik und Hinterfragung ist das eine, aber was stattdessen geglaubt und gewollt ist, das andere. Doch hier gibt es wenig Halt, keine unverrückbaren Grundsätze und immer weniger Idole. Der Wogegen-man-ist-Kämpfer findet keinen Wofür-man-ist-Partner.

Die Kultur der Jugendkritik

Weniges ist dauerhafter als die Kritik an der Jugend:

„Die Jugend achtet das Alter nicht mehr, zeigt bewusst ein ungepflegtes Aussehen, sinnt auf Umsturz, zeigt keine Lernbereitschaft und ist ablehnend gegen übernommene Werte.“ (Keller, 1989, ca. 3000 v. Chr., Tontafel der Sumerer).

„Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe.“ (Keilschrifttext, Chaldäa, um 2000 v. Chr.)

„Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten.“ (Watzlawick, 1992, ca. 1000 v. Chr., Babylonische Tontafel).

„Denn der Sohn verachtet den Vater, die Tochter steht wider die Mutter, die Schwiegertochter wider die Schwiegermutter.“ (Micha 7, Altes Testament um 725 v. Chr.)

„Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.” (Sokrates, 470-399 v. Chr.)

„Die Kinder von heute sind Tyrannen. Sie widersprechen ihren Eltern, kleckern mit dem Essen und ärgern ihre Lehrer.“ (Sokrates, 470-399 v. Chr.)

Und so weiter. Aber außer, dass sie mit dem Essen kleckern, haben anscheinend viele Jugendlichen mit denen da oben wenig gemein. Oder doch?

Ein aktuelleres Zitat über heutige Jugendliche gab mir zu denken, gerade im Vergleich zu den obigen Aussagen: “Jedes zweite Unternehmen klagt über mangelnde Disziplin und Belastbarkeit sowie fehlende Leistungsbereitschaft und Motivation.“ (Die Welt, 21.8.2014 Zitat zur neuen DIHK Umfrage „Ausbildungsfähigkeit“) Durch andere ähnlich lautende Zitate und Aussagen, gerade von Recruitern und Arbeitsvermittlern, kommt man zu einem vorsichtigen Ergebnis:

Die mangelnde Belastbarkeit scheint also ein Defizit zu sein, an dem viele junge Menschen heutzutage leiden.

Das Leben als Spielwiese – Beziehung ohne Erziehung?

Mir tun sie leid, die, die am Alltag verzweifeln, denen alltägliche Dinge Mühe bereiten, die Verantwortlichkeit als Bürde und Entscheidung als Zwang erleben. Und diese Menschen gibt es häufig, gerade in jüngeren Generationen. Albert Wunsch nennt sie oft “unmündig, wenig belastbar und verwöhnt”, erklärt aber gleich darauf, dass diese unverschuldete Unmündigkeit oft die Folge einer unsicheren Erziehung und Lebensgestaltung ist.

Da kommt ein Kind zur Welt. Der Vater, ein ergrauter Herr Anfang 50, die Mutter, promovierte Rechtswissenschaftlerin, Anfang 40. Eine Jugendstilwohnung mit Echtholzparkett gegenüber dem Bioladen gibt Heim und Herd. Der intellektuelle Bekanntenkreis freut sich mit und schenkt wertvolle Hinweise in Form von Gesprächen, Büchern und Kursgutscheinen. “Wie erziehe ich ein Kind?” scheint die Frage der Fragen zu sein, obwohl schon in der Frage das Falsche lauert, “erziehen”, scheint schon ein fragwürdiger Begriff zu sein. Behütet, bespaßt und beseelt wächst das Kind auf, seine Eltern sind seine Freunde und die Umwelt eine nette Gesellschaft.

Was fehlt, sind die Auseinandersetzungen, die “Ich hasse dich, ich hasse euch alle” - Kommentare, das Türenknallen und die grünen Haare, die Empörung hervorrufen, ja, hervorrufen müssen. Und es fehlt etwas von der “Solange du deine Beine unter meinen Tisch ….”-Mentalität. Albert Wunsch meinte in einem Interview dazu, dass heutzutage oft das Phänomen zu beobachten ist, dass Eltern die Aufgabe ausgeklammert zu haben scheinen: “sich als Reibfläche mit ihren Kindern zu bewegen und die Kinder ernst zu nehmen, sie in das Leben zu führen”. Die Angst vor einem Konflikt ist höher als das Vertrauen in die Resilienzfähigkeit des eigenen Kindes.

Autorität wird mit autoritär verwechselt, ein fataler Irrtum. So orientieren sich Eltern oft mehr an ihren Kindern als andersherum. Sie möchten nicht die “Eltern” sein, die von Entscheidungen und Denkvorgängen ausgeschlossen sind, nein, sie wollen beste Freunde und Kumpels sein, sie wollen zur Peer Group gehören. Doch das hat Folgen. Aber darüber will ich mich nicht weiter verbreiten, denn die Kritik an überbehüteten Helikopterkindern wurde bereits hinreichend beschrieben.

Doch was machen nun die Kinder dieser Eltern, also die “Luschen”, oder ist diese Stigmatisierung nur der Neid, die Missgunst oder das Unverständnis älterer Generationen ihnen gegenüber? “Wir haben noch richtig gearbeitet…” und ähnliche Kommentare kennt man ja zu genüge, womit man dann doch wieder Teil einer jahrtausendealten Jugendkritik ist.

Die Multioptionalität als Entscheidungsverhinderer

Das Kind aus obigem Beispiel ist nun groß, äußerlich nicht ganz als Frau oder Mann einzuordnen und trägt die Jeansjacke seiner Mutter auf. Und nun wird es gefragt, was es denn machen wolle. Seine “einfache” Aufgabe ist es, sich zwischen mehr als 500 Berufen, 20.000 Studiengängen und Millionen von Jobs zu entscheiden. “Du musst doch wissen, was du willst…” Nein, das weiß das Kind eben nicht. Es schreibt sich irgendwo ein, studiert eine seltsam anmutende Fächerkombination und zieht in eine WG. “Und was wird man damit?” Keine Antwort. Und plötzlich kommen Schwierigkeiten. Da ist es eine Hausarbeit, die nicht rechtzeitig abgegeben wird, da ist es ein Dozent, der das Kind belastet, da ist es der “Stress”, der wie ein Schatten drückt. Ende vom Lied, das Kind kann nicht mehr, hat “Burnout”, muss das Studium aufgeben. Das Verständnis der Umwelt hält sich in Grenzen. Das Kind ist eine Lusche, sieht ja auch so aus, basta. Verwöhnt, konfliktscheu und unsicher (siehe oben).

Der emotionale Anti-Luschen-Affekt

Wenn man das so liest bekommt man nicht nur Mitleid, sondern auch Wut, denn nein, so einfach ist es eben nicht. Das Kind wird entweder als minderwertig und misserzogen abgestempelt oder als Problemfall, als Erziehungsopfer oder als Patient, dem alle Aufmerksamkeit gelten muss, gesehen. Doch wie symptomatisch auch “das Kind” sein mag, jeder Mensch hat seine ganz persönlichen Ressourcen und Möglichkeiten, die anscheinend in unserem Beispiel noch nicht genutzt wurden. Daher könnte doch die Frage an die betreffende Umwelt auch lauten, “Was wollt ihr von diesem Kind?”. Denn der ganzen liberalen und multioptionalen Angebotskultur und Ausbildungsmöglichkeit zum Trotz, scheint der Gestaltwille doch in erster Linie von einer emotionalen Verbindlichkeit getragen zu werden. So gab es in den früheren Zeiten drei grundlegende Affekte. Zum einen den Affekt des “Dagegen”, also ungefähr so: “Ich beiße mich durch das Architekturstudium, um endlich mal helle, freundliche und schnörkellose Häuser zu bauen und den Mief der Jahrhunderte abzulegen.”, zum anderen den Affekt des “Dafür”, ungefähr so: “Ich liebe die Bauten von XY, um in seinem Büro arbeiten zu können, werde ich lernen und studieren.” und zum dritten der Affekt des “Dabei”, also der Verbindlichkeit und Tradition, ungefähr so: “Alle meine Verwandten sind Architekten, darauf bin ich stolz, ich will in dieser Reihe ebenbürtig sein.”

Wenn aber keines dieser Affekte, also keine emotionale Zielorientierung stattfindet, dann ist es sehr schwierig, eine intrinsische Motivation aufzubauen. Und das ist beileibe kein modernes Phänomen, dass Menschen nicht genau wissen, was sie und warum sie etwas tun sollen. Die Selbstdisziplinierung durch einen Sinn ist wahrscheinlich erfolgreicher als die umsorgenden Verfahren, die Belastung des Alltags zu entschärfen. Es gleicht daher eher einer negativen Verstärkung, wenn dem Kind in unserem Beispiel die individuelle Watte der Schonung umgelegt wird.

Fazit

Der Titel “Das Drama der Luschen” lässt also offen, wer wirklich die “Luschen” sind. Die Jugendlichen, die nicht “durchziehen”, oder die Erwachsenen, die sie nicht brauchen? Oder sind es die Eltern, die Konflikte scheuen, oder die Menschen, die im Berufsleben stehend nur davon reden, endlich kürzer treten und in Rente gehen zu wollen? Eigentlich ist es gar nicht so schwer. Die gegenseitige Rücksicht vernebelt oft das Ziel. Verlangt der Dozent viel, ist präsent und selbst ein professioneller Architekt, so ist das oft mehr wert als Verständnis und angepasste Schonung. Das heißt, durchziehen muss in erster Linie immer derjenige, der weiß, warum er etwas will. Für “Luschen” ist es nämlich dadurch möglich, Reibung und damit Wärme zu erzeugen, die Ressourcen freilegen und Sinn erkennen lassen können. Wer einen höheren Sinn für sich erkennt, wer eine Vision hat und daraus ein Ziel macht, der sollte versuchen, für dieses Ziel, für diese Vision zu werben und Menschen zu begeistern. Erst dadurch gelingt es manchen, ein “Dafür”, “Dagegen” oder ein “Dabei” zu entwickeln.


Bitte beachtet auch meine Schwerpunktseite: www.musikerberatung-frieling.de.

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