Coping – Strategien gegen Stress

 

Was ist Stress?

Stress ist ein Wort, was nervt. Nicht nur, weil es jeder ständig verwendet, sondern weil es meistens sehr negativ konnotiert ist. Stress bedeutet entweder wirkliche Überforderung oder eine sich selbst wichtigmachende Ausrede. Letztere muss einem noch nicht einmal bewusst sein. Es reicht schon die Annahme, dass das Gegenteil von Nichtstun eben Stress sei. Stress ist etwas Belastendes, Unangenehmes und Bedrohliches. Unterschieden werden können noch Beschreibungsarten wie Ursache (Ich komme zu spät, weil meine Kinder “gestresst” haben.), die Folgen (Ich fühle mich "gestresst", weil ich zu spät gekommen bin.) oder der Prozess selbst (Es stresst mich, immer so zu hetzen). Aber heute soll es nicht primär um Stress gehen, sondern darum, was man dagegen macht, bewusst oder unbewusst. Das nennt man Coping.

Welche Copingstrategien unterscheidet man?

  1. Active Coping (Aktives Coping)
  2. Planning (Planung)
  3. Supression of competing activities (Vermeidung gleichzeitiger Aktionen)
  4. Restraint Coping (Zurückhaltung)
  5. Positive Reinterpretation and Growth (Positive Neuinterpretation und Wachstum)
  6. Seeking Social Support (Soziale Unterstützung)
  7. Acceptance (Akzeptanz)
  8. Turning to Religion (Religion)
  9. Humor (Humor)
  10. Focus on and venting of Emotions (direkte Emotionalität)
  11. Denial (Verweigerung)
  12. Behavioral Disengagement (Verhaltensrückzug)
  13. Mental Disengagement (dumm stellen)
  14. Secondary coping (Stressessen, Substanzflucht)

Stressreaktionen als Muster

Belastungssituationen werden sehr individuell empfunden. Und jeder von uns entwickelt ganz eigene Strategien, darauf zu reagieren, auch wenn das ein großes Wort für manchmal nur kleine und oft unbewusste Reaktionen ist. Dennoch existieren individuumübergreifende Verhaltensmuster, da Stress als biologisches Programm dazu dient, bei Gefahr an Leib und Leben richtig und schnell zu reagieren. Daher ist Stress eine Reaktion auf einen dieses Belastungsgefühl auslösenden Reiz, den Stressor. Manchmal verschwinden Stressoren von allein, manchmal jedoch muss man längerfristige Strategien entwickeln, um sich vor diesen zu schützen. Beispielsweise können das störende Geräuschquellen sein wie der Straßenverkehr, dudelnde Fahrstuhlmusik oder die ewig gleiche CD beim Chinesen um die Ecke. Manche reagieren mit dicken Kopfhörern, andere können diese Geräusche ignorieren, wieder andere unterhalten sich so laut, dass sie alles übertönen. Und dann gibt es diejenigen, die versuchen, alles, was laut ist und nervt, zu vermeiden. Und genau diese verschiedenen Strategien nennt man Copingstrategien.

Es gibt drei Ausrichtungen:

  • Es gibt das proaktive Coping, also die Konfrontation mit dem Stressor und die Vorbereitung darauf.
  • Es gibt das reaktive Coping, die unmittelbare Reaktion auf Stress und umgangssprachlich gesagt die Entspannung danach.
  • Es gibt das passive Coping, also die mögliche Vermeidung des Stressors und das Umgehen von Problemen.

Im proaktiven Coping gerät Stress weniger zur Überraschung als mehr zu einer vorbereiteten Belastungssituation. Das kann das unangenehme Gespräch mit einem Kollegen sein, oder auch eine Reise mit der Deutschen Bahn. Reaktives Coping geschieht beispielsweise während einer Rast oder in der Badewanne nach einem langen Tag. Passives Coping habe ich oben beschrieben, man geht nicht mehr zum Chinesen...

Coping oder Resilienz – Was denn nun?

Coping oder Resilienz, das sind zwei verschiedene Punkte. Als Resilienz bezeichnet man die Widerstandsfähigkeit gegenüber Stress und anderen Störfaktoren. Diese kann man unterstützen, trainieren und ausbauen. (siehe auch meinen Artikel: “Resilienz – Wenn wir uns gegen außen schützen“) Als Coping wiederum bezeichnet man die einzelnen Strategien, die dem Stressabbau, dem Widerstand oder der Verarbeitung dienen. Übrigens ist der Zusammenhang zwischen Resilienz und Coping ein Streitpunkt von Psychologen und Forschern. Die einen meinen, dass Resilienz das Ergebnis eines guten Copings sei, die anderen meinen, dass Resilienz nur eine Copingstrategie sei. Fakt ist, es ist eben nicht dasselbe. Denn Coping sagt nichts über Erfolg oder Misserfolg aus, also ob ich meinen Stress bewältigt habe oder immer noch daran leide. Resilienz dagegen ist schon eher ein positives Ergebnis, ein Bewältigungserfolg. Und dieser hängt nicht nur von den Strategien im Einzelnen ab, sondern von der Flexibilität und vom Strategiemix. Je schlauer man seine Copingstrategien an den jeweiligen Stressor anpasst, desto erfolgreicher kann die Bewältigung des empfundenen Stresses sein. Daher machen wir es uns mal einfach: Resilienz ist das Ergebnis dieser Adaptionsfähigkeit. Aber warum ist das so wichtig zu erwähnen? Weil sich daraus folgende Erkenntnis ergibt. Nicht die Strategie (also das "Rezept"), wie man einem Stressor begegnet, ist entscheidend, sondern die Fähigkeit, diese Strategie individuell so anzupassen, dass sie auch funktioniert.

Unser Beispiel: Der Bahnsteig ist voll. Die Bahn (auch gut besetzt) kommt, der Koffer ist schwer, die Tür eng und hoch. Es stresst, der Zug fährt gleich ab, man bekommt den Koffer nicht alleine hochgewuchtet. Also müsste man einen Mitreisenden fragen, ob er helfen könne. Oder aber man sollte weniger mitnehmen oder aber gar nicht fahren.

Eine Copinstrategie wäre beispielsweise die soziale Unterstützung. Man bittet um Hilfe. Fertig. Für die meisten von uns ist das sicherlich eine gute und erfolgreiche Copingstrategie. Aber eben nicht für alle, denn aus der Überlegung heraus, jemanden um Hilfe zu bitten, kann neuer Stress entstehen. Daher kann es für andere Menschen hilfreicher sein, sich durch bessere Planung (auch eine Copingstrategie) dieses Dilemma von vornherein auszuschließen.

Die Strategien im Einzelnen

Ende der 80er Jahre entwickelten drei Forscher (Scheier, Weintraub und Carver) die  sogenannte COPE-Scale. Diese differenziert auf der einen Seite zwischen problemfokussierten und emotionsfokussierten Strategien und auf der anderen Seite zwischen proaktiven und reaktiven Strategien. Da die Grenzen fließend sind, reicht mir die Betrachtung der Strategien als solche:

1. Aktives Coping

Aktives Coping ist vieles, nur nicht eine ganz klar von anderen abzugrenzende Strategie. Aber eines ist wichtig: Im Aktiven Coping wird sich mit dem Stressor aktiv, d. h. bewusst, auseinandergesetzt. Man kennt den stressauslösenden Reiz (Beispiel zu schwerer Koffer vs. hohe Tür und Bahnfahrt) und will ihn mit einer gezielten Reaktion eliminieren. Aktives Coping kann aber auch die Änderung von Gewohnheiten sein. (“Ich packe keine solch schweren Koffer mehr.”)

2. Planung

Der Erfolg dieser Strategie hängt ganz von der Art und Weise ab, wie sie durchgeführt wird. Beim obigen Beispiel hatten wir eine problemfokussierte Betrachtungsweise. Aufgrund der Situation des schweren Koffers und der gleichzeitigen Vermeidung unnötiger sozialer Interaktion kam es zu einer Vorbereitung, die diesen möglichen Stress vermied. Diese auch als “action planning” bezeichnete Strategie antizipiert möglichen Stress und versucht im Vorhinein, ihn zu vermeiden. Andererseits hätte eine als “coping planning” bezeichnete Strategie vielleicht auch funktioniert. Man nimmt also in Kauf, aufgrund des schweren Koffers um Hilfe zu bitten, Man wuchtet nun den Koffer ins Abteil und freut sich dann auf ein schönes Hörbuch, welches mithilfe der dafür extra eingepackten ANC-Kopfhörer nun einen störungsfrei belohnt. Also plant man die Entspannung nach dem Stress. An diesen beiden Beispielen wird schon deutlich, wie wichtig es ist, sich selbst genau zu beobachten, welche Methode besser funktioniert und dem Stress besser begegnet.

3. Vermeidung von gleichzeitigen Aktionen

Oft als Stärke gepriesen, ist Multitasking eine große Quelle von Stress. Gleichzeitig und sich gegenseitig konkurrierende Aktivitäten rauben viel Energie und bereiten Stress, also Überforderung der Ausführung. Daher kann es sinnvoll erscheinen, Aktivitäten zu priorisieren und sich auf eine zu fokussieren. Doch das ist meistens nicht so einfach. Betrachten wir unser Beispiel: Prioritär erscheint, dass der Koffer ins Abteil kommt, nebensächlich dabei ist, ob uns das Hilfeersuchen stresst, oder der Zug so voll ist, dass ein anderer Wagen besser geeignet wäre. Also ordnen sich die anderen Tätigkeiten (Fragen, Platz suchen, Maske aufsetzen, Wagennummer vergleichen etc.) unter. Diese Erkenntnis kann helfen, auch unangenehme Aktionen, wie andere Menschen um Hilfe zu bitten, auszuführen. Wenn wir aber beim Einsteigen beispielsweise gleichzeitig telefonieren, wird das Stresslevel ungleich höher sein, weil sich die einzelnen Aktionen unsere Konzentration teilen müssen.

4. Zurückhaltung oder Timing

Als Zurückhaltung bezeichnet man das Timing für eine Handlung. Manchmal ist der Zeitpunkt des Aktiven Copings nur in einem gewissen Zeitfenster sinnvoll. Daher empfiehlt es sich, sich im Vorhinein genau zu überlegen, wann der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist, etwas aktiv gegen den Stressor zu unternehmen. In unserem Bahnbeispiel ist es also sinnvoll, wirklich erst bis zum Halt des Zuges zu warten und beim Öffnen der Türen jemanden um Hilfe zu bitten. Minuten vorher schon auf dem Bahnsteig geeignete Personen ausfindig zu machen, kann nur erneut zu einer belastenden Situation führen. Zurückhaltung oder Timing ist aber nicht zu verwechseln mit Prokrastination, wo nicht auf den richtigen Zeitpunkt gewartet wird, sondern ablenkende Aktivitäten dazu dienen, die als Belastung empfundene eigentliche Aufgabe zu vermeiden.

5. Positive Neubewertung und Wachstum

Stressauslöser können auch nachträgliche Bewertungen einer Situation sein. Daher ist eine Neubewertung eine große Ressource für eine erfolgreiche Copingstrategie. Man kennt es auch als Reframing, also die Situation aus einer anderen Betrachtungsweise sehen. Wie selbstverständlich das ist, oder besser gesagt, wie gut das funktioniert, ist nicht erst durch das Neurolinguistische Programmieren bekannt, sondern begegnet uns im Alltag, bpsw. in Witzen: Verkehrskontrolle. Der Polizist: „Haben Sie etwas getrunken?“ – Autofahrer: „Nein.“ – Polizist: „Sollten Sie aber! Mindestens 2 Liter am Tag.“ oder ein schönes Beispiel ist auch: Optimist: „Das Glas ist halb voll.“ – Pessimist: „Das Glas ist halb leer.“ – Mama: „Wieso ist da kein Untersetzer?“ Doch was heißt das für den Umgang mit Stressoren? Nehmen wir wieder unser altbekanntes Bahnbeispiel. Es gibt hier mindestens drei bewusst wahrgenommene Stressoren: 1. die kurze Zeit des Ein- und Aussteigens und die ungewisse Anzahl von Menschen, die drängeln. 2. der schwere Koffer, der ein unabhängiges Agieren verhindert und 3. die Scheu, jemanden um Hilfe zu bitten. Natürlich ließen sich noch viele weitere Stressoren finden, aber im Kern soll es um diese drei gehen. Mithilfe des Reframings, also der stressigen Situation einen neuen Rahmen geben, kann man die drei Stressoren wiefolgt interpretieren: “Durch die kurze Umsteigezeit sind genügend Menschen bemüht, auch schnell einzusteigen. Dadurch sind sie viel hilfsbereiter. Es ist also völlig normal, jemanden um Hilfe zu bitten, viele freuen sich sogar, helfen zu dürfen. Vielleicht lerne ich durch den schweren Koffer einen netten Reisebegleiter kennen.” Doch neben diesem eher pragmatischen Ansatz bekommt die Neubewertung in Sinnfragen eine wichtige Bedeutung. Krankheit, Arbeitslosigkeit und andere Schicksalschläge können mithilfe der Sinnfrage, warum einem das passiert, oft erstaunliche Antworten und Aussichten geben.

6. Soziale Unterstützung, Freunde und Berater

Eine der wichtigsten Copingstrategien überhaupt ist die soziale Unterstützung. Der Mensch als Gemeinschaftswesen braucht ständig Feedback, Bestätigung und soziale Interaktion. Natürlich ist das individuell sehr verschieden. Dennoch ist soziale Unterstützung ein wichtiger Faktor bei der Stressregulierung. Es werden dabei zwei Arten unterschieden:

  • die instrumentelle soziale Unterstützung und die
  • emotionale soziale Unterstützung.

Wenden wir uns nochmal unserem Bahnbeispiel zu: Sie wissen schon, dass der Koffer sehr schwer ist und bitten einen Freund, sie zum Bahnhof zu bringen und ihnen beim Einsteigen behilflich zu sein - das wäre dann die instrumentelle soziale Unterstützung. Denn hier liegt der Fokus bei einer tätigen Hilfe. Wenn sie aber dem gleichen Freund nach der Reise von ihren Mühen erzählen und ihm ihr Herz ausschütten, dann leistet er ihnen emotionale Unterstützung.

Bisher scheint das alles irrelevant und nur mit aufgeblasenen Begriffen verwissenschaftlicht, doch spannend wird es, wenn man sich soziale Unterstützung als Copingstrategie sucht, sich aber nicht ganz klar macht, welcher Art sie sein soll. Da gibt es den Helfer, der nur den Koffer mit hochwuchten soll und plötzlich anfängt, seelsorgerische Ratschläge zu geben. Und dann gibt es den Freund, an dessen Schulter man sich ausweinen möchte, der aber nur von sich erzählt. Was läuft hier falsch? Indem man sich ganz klar macht, was man von dem anderen erwartet und was nicht, ist diese Erwartungshaltung auch zu kommunizieren. Denn nicht nur man selbst sollte genau wissen, was man von jemandem möchte, sondern derjenige sollte das auch wissen, um Missverständnissen vorzubeugen und keinen neuen Stress zu erzeugen.

7. Akzeptanz des Unveränderlichen

Wie auch die Neubewertung und die soziale Unterstützung zählt die Akzeptanz zu einer der wichtigsten Ressourcen im Umgang mit Belastungen. Denn viele Stressoren sind unveränderlich oder zumindest von uns nicht beeinflussbar, wie Unwetterkatastrophen oder weltpolitische Entscheidungen. Aber es gibt einen Unterschied zwischen Resignation und Akzeptanz, denn bei ersterer verzagt man vor einer vermeintlich gestellten Aufgabe, bei letzterer jedoch akzeptiert man, dass es eben keine gestellte Aufgabe ist. Nennen wir es daher einfach aktive Akzeptanz. In unserem Beispiel ist es eben die kurze Umsteigezeit, der schwere Koffer und die Situation, fragen zu müssen. Das zu akzeptieren und nicht nach Alternativen zu suchen, ist schon der erste Schritt, sich davon nicht zu sehr stressen zu lassen. Gleichermaßen geht es uns so mit belastenden Gegebenheiten, die wir gerade während der Epidemie erlebten. Viele Entscheidungen und Maßnahmen erschienen uns nicht nachvollziehbar, gängelnd oder kontraproduktiv. Aber ändern konnten wir sie nicht, es sei denn, wir hätten das als ein Ziel definiert. Doch nur das Meckern darüber erhöht nur den eigenen Stresspegel und führt zu keinem positiven Ergebnis. Hier hilft oft Akzeptanz. Es ist sehr einfach: Solange man keine Energie in die Änderung der Gegebenheiten aufbringen möchte, solange muss man diese akzeptieren.

8. Religion

Die Religion ist ein ganz heißes Eisen. Sie ist genauso verantwortlich für Kultur, Humanismus und Gesellschaftssysteme wie auch für Kriege, Verwüstungen und Genozide. Ohne die Religion, meinen die einen, gäbe es solch großes Leid nicht, wie wir es erleben. Allerdings, sagen die anderen, gäbe es ohne die Religion gar keine Menschen. Wie auch immer das philosophisch einzuordnen ist, die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die an höhere und immaterielle Werte und Mächte glaubt, kann gerade in schweren Zeiten Halt und Sinn geben. Jede Form von Spiritualität erklärt den Sinn des Lebens anders. Aber es ist genau diese Erklärung, die Stressoren immer in Bezug zu dieser Überzeugung stellt. Man kann auch sagen: Religion ist bei Stress das Reframing aus Sicht einer höheren imaginativen Instanz, an deren Existenz man glaubt.

9. Humor

Humor ist uns oft ein wunderbarer Kanal für Stressabbau und gilt bei einigen Tiefenpsychologen zu den Abwehrmechanismen. Dabei lassen sich mit Humor “seelische Konflikte ausdrücken, ohne damit sich selbst zu behindern oder andere zu verstören, verletzen oder auszubeuten.” Diese Copingstrategie ist sehr emotional konnotiert, da gerade bei ironischen bis hin zu sarkastischen Kommentaren die emotionale Komponente einer Belastung entschärft wird. Nehmen wir unser Bahnbeispiel: Der Zug fährt ein, er ist 9-€-Ticket-voll. Das emotionale Erlebnis ist die komplette Überforderung. Man fühlt sich hilflos, bedroht und hat Angst. Die ironische Bemerkung zu einem anderen Reisenden könnte daher lauten: “Gott sei Dank steigen noch andere ein, sonst hätte ich geglaubt, der Zug fährt gar nicht.” Hier findet also eine ironische Distanzierung von der emotionalen Belastung statt, man reduziert die gefühlsmäßige Übertreibung der Situation und relativiert damit das Empfinden der Überforderung. Ohne diese Ironie wäre vielleicht als Übersteigerung der Stresssituation nur der Rückzug möglich gewesen. (“Das hat ja eh keinen Sinn, da komme ich nie rein, keiner hilft mir, der Koffer ist zu schwer, ich schaffe das alles nicht. Ich geh wieder heim.”)

10. Direkte Emotionalität

Sagen wir's mal so, extrovertierte Choleriker haben es manchmal leichter als introvertierte Melancholiker. Da bekommt Ersterer einen Anfall und platzt mit allem heraus, was ihm nicht passt. Das Gewitter ist kurz und heftig. Danach hat er “seinen Gefühlen Luft gemacht”, es geht ihm besser. Beim Melancholiker kann es sein, dass er Verletzungen oder emotionale Belastungen in sich reinfrisst und es dadurch zu einem Stressstau kommt. Kleinste Sticheleien können das Fass zum Überlaufen bringen. Und jahrelang erlittene und unwidersprochene Kränkungen finden nun einen Kanal, der entweder autoaggressiv oder aber zwischenmenschlich zu irreversiblen Brüchen führen kann. Spannend dabei ist aber, dass allein das “Dampf ablassen” keine wirklich signifikant verbessernde Copingstrategie darstellt. Erst nachdem das emotionale Gewitter oder das lautstarke Geschimpfe mit einer nun folgenden Interaktion gekoppelt ist, wird es zu einer helfenden Copingstrategie. In unserem Bahnbeispiel will man gerade einsteigen, als eine dicke Frau sich vorbeidrängelt und einen beiseite stößt. Man regt sich lautstark auf und meckert sie an. Diese dreht sich um, entschuldigt sich und macht einem Platz. Völlig verblüfft registriert man, dass eine Reinterpretation des Stressors erfolgt ist. (Die “dicke, dumme Pute” wurde zu einer “höflichen Mitreisenden”, die ebenfalls von den vielen Leuten überfordert, also eine Mitleidende ist) Nun merken wir aber bei diesem Beispiel auch, wie relevant der Tonfall und die Wortwahl unseres “Meckerns” für die Möglichkeit einer Reinterpretation des Stressors ist. Also “Dampf ablassen” funktioniert als Copingstrategie nur dann erfolgreich, wenn der als Stressor identifizierte Mensch oder Tatbestand re-interpretiert werden kann, durch Korrektur, Entschuldigung oder Rechtfertigung. Wenn wir in unserem Tonfall beleidigend, ausschließend oder gar ausfallend werden, verschließen wir die Möglichkeit einer Neubewertung und schaffen nur neuen Stress.

11. Verweigerung

Tiefenpsychologisch haben wir es hier mit psychischen Vorgängen einiger Abwehrmechanismen zu tun. Das kann sowohl die “Verleugnung” sein (augenscheinliche Realität wie ein voller Zug wird in seiner Bedrohung und Belastungs nicht anerkannt, sondern ignoriert) als auch die “Verdrängung” (unbewusster Ich-Schutz durch erschwerte Erinnerungen an unangenehme Erlebnisse, in unserem Beispiel werden mögliche Panikgefühle aus der Kindheit durch zu volle Bahnsteige verdrängt und nicht als emotionale Vergleichsgröße zugelassen). Als Copingstrategie liegt der Fokus auf einer bewussten Entscheidung. Problemorientiert könnte die Verweigerung also so lauten: “Ich fahre nicht mit der Bahn, das ist zu voll, das stresst mich, das tue ich mir nicht an.” Emotionsorientiert wiederum könnte die Entscheidung so lauten: “Ich lasse mich nicht stressen, für mich sind alle Menschen um mich herum nur Staffage, ich ignoriere die aggressive und nervöse Stimmung um mich her.” Man vermutet schon hier, dass die Verweigerung als Copingstrategie nicht so wirklich hilft, weil sich zum einen Probleme nur selten von alleine lösen und zum anderen oktroyierte Glaubens- und Mantrasätze nur selten funktionieren. Also sollte man bei der Verweigerung (auch das “Nein-Sagen” gehört dazu) sich sehr genau überlegen, was sie einem wirklich bringt und wie weitreichend diese Strategie hilft oder Stress nur verschiebt.

12. Verhaltensrückzug

Geschieht die Verweigerung häufiger auch auf sozialem Gebiet, spricht man von einem Verhaltensrückzug, der beispielsweise bei depressiven Episoden zu den Leitsymptomen gehört. Diese Copingstrategie ist also proaktiv, weil man aufgrund der unangenehmen Erfahrung, dass beispielsweise soziale Gemeinschaft stressen kann, sie von vornherein meidet. Nun aber greift das Dilemma der negativen Verstärkung (ein Begriff aus der Verhaltenspsychologie oder Behaviorismus). Der als unangenehm empfundene Reiz “soziale Interaktion” wird vermieden durch ein bewusstes Verhalten, nämlich den Rückzug. Dadurch kommt es aber zu einer Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, dass man dieses Verhalten, also den Rückzug, öfter anwendet. Sozusagen: “Aha, wenn ich nicht zur Party gehe, muss ich auch nicht mit Leuten sprechen, werde nicht rot und unbeholfen.” Also geht man auch nicht mehr zur nächsten Party, und schon drei Leute in einer Gruppe lassen einen überlegen, diesen als entlastend erlernten Verhaltensrückzug anzuwenden. Generalisiert man den Verhaltensrückzug nicht, sondern wendet ihn als proaktive Copingstrategie an, dann kann diese helfen, energieabsorbierende Menschen zu meiden oder auch gewissen Situationen nicht mehr ausgesetzt zu sein, die eher belastend als befruchtend sind. Dennoch muss man aufpassen, ob es sich hier wirklich noch um einen bewussten und definierten Verhaltensrückzug in Bezug zu konkreten Stressoren handelt, oder eventuell eine lavierte soziale Phobie heranwächst, die sich negativ verstärkt.

13. Dumm stellen

Es gibt ein wunderbares Sprichwort: “Lieber fünf Minuten doof stellen als eine Stunde arbeiten.” Und wer von uns kennt das nicht, dass diejenigen, die viel können und hilfsbereit sind eher gefragt werden als Menschen, wo alles kompliziert ist, die inkompetent scheinen und deren Mitarbeit eher Belastung als Hilfe ist. Kommen wir zu unserem Zugbeispiel: Die erforderliche Hilfe beim Hochtragen des Koffers muss sofort erfolgen. Der Angesprochene hat also nur einen Bruchteil einer Sekunde Zeit, sich zu überlegen, “ja” oder “nein” zu sagen. “Ja” ist in diesem Falle die konkrete Hilfe. “Nein” hingegen könnte eine Copingstrategie desjenigen sein, der sich durch das Hilfeersuchen gestresst fühlt. Er stellt sich dumm. Beispielsweise fragt er “Welchen Koffer?”, “Wohin soll er?”, oder “Jetzt sofort?” Das führt meistens dazu, dass ein anderer eingreift und der Gefragte von seiner Verantwortung, Hilfe leisten zu müssen, erlöst ist. Weiterhin hat es den Vorteil, dass der Gefragte sich nicht klar positionieren und “Nein” sagen muss. Denn das könnte erneuten Stress auslösen. Das Dummstellen ist eine sehr moderne und beliebte Copingstrategie, die sich auch in Prinzipien- und Paragraphenreitern wiederfindet. Nicht verstehen zu wollen, was der andere meint, ist auch nur eine Form, sich nicht dem “Stress” auszusetzen, aus der Sicht des anderen heraus ein benanntes Problem anzuschauen. Nein, es ist der bequeme Weg, dieses anstrengende Denken zu vermeiden und sich auf fast schon regressiver Obrigkeitsgläubigkeit zurückzuziehen (“Ich kann nichts dafür, das steht im Gesetz…”, was inhaltlich stark folgendem Satz aus der Kindheit ähnelt: “Ich darf das nicht, Mami hat’s verboten…”). Hierzu mein Verweis auf den Blogbeitrag: “Regression – wenn ich als Erwachsener “Mama” rufe”.

14. Alkohol, Drogen, Stressessen

Die auch als Substanzflucht bekannte Copingstrategie hat schon literarische Größe. Heinz Erhardt dichtete einst: “Immer wenn ich traurig bin, trink ich einen Korn.” Das geht dann mehrere Strophen so weiter, bis er wieder von vorne anfängt. Pointiert beschreibt er diese Copingstrategie. Woanders heißt es: “Wer Sorgen hat, hat auch Likör.” Ob “Klosterfrau Melissengeist”, “Kölnisch-Wasser” oder “Frauengold”, immer wieder gab und gibt es Tinkturen, die durch regelmäßige Anwendung Zufriedenheit, Erleichterung im Alltag und eine “gehobene Stimmung” versprechen. (Hier ein wirklich sehenswerter Werbefilm für “Frauengold”). Viele dieser Wunderwässerchen enthalten vorwiegend viel Alkohol und sorgten oft für eine versteckte Alkoholabhängigkeit. Ganz offensichtlich handelt es sich dabei um Helferlein für stressabbauende Copingstrategien. Und dass ein Besäufnis nicht das Problem löst, ist zwar bekannt, aber solange es betäubende Drogen geben wird, werden liebeskummerleidende Menschen diese nehmen oder besoffen an der Theke hängen. Substanzflucht scheint also eine Copingstrategie zu sein, die eher ein kurzes Aus aus dem Problemempfinden als deren Lösung anstrebt.

Eine andere Form des Stressabbaus kann das sogenannte Frustessen sein. Hierbei handelt es sich um den gewünschten beruhigenden oder gar beglückenden Moment der Nahrungsaufnahme. Gustatorische und olfaktorische Reize können von anderen Belastungen ablenken und somit den Stress abbauen oder ihn zumindest pausieren. Rein gesundheitlich sind diese Strategien natürlich dysfunktional, aber inwieweit sie als Copingstrategie taugen oder in Verbindung mit anderen Strategien wirklich helfen, muss jeder für sich herausbekommen. Das Stressessen gilt als typisches Beispiel für eine sekundäre Copingstrategie, weil es ja oft erst beginnt, wenn andere Strategien versagt haben. Süß, fettig und salzig, das ist der Weg für viele Frustrierte, deren andere Strategien versagten und denen nur eine scheinbare Flucht in das schnelle Glück bleibt.

Fazit

Die Aufzählung von Copingstrategien ist keine Hilfe. Erst wenn man sich in der täglichen Auseinandersetzung mit Stress und Belastungen klar macht, welche Strategien man anwendet, welche funktionieren, welche nicht, welche nicht klar zu erkennen sind etc., erst dann können sie besser greifen. Denn Copingstrategien sind uns Menschen zwar gleich, aber nutzen tun wir sie höchst individuell und oft auch nur wenige davon. Viele von uns haben Copingstile entwickelt, die in ihrem Muster wenig variieren. Aber gerade bei Krisen merken wir, dass diese bekannten Copingstile nicht funktionieren. Daher erscheint es oft sinnvoll, die angewandten Copingstrategien bewusst wahrzunehmen und zu hinterfragen, welcher Motivation sie entspringen. Und manchmal kann es auch helfen, nicht ad hoc darauf zu hoffen, die richtigen Strategien gegen die Stressoren zu finden, sondern sich vorher Szenen, die als belastbar eingestuft werden, vorzustellen und verschiedene Strategien durchzuspielen. Folgende Fragen können daher helfen: Was mache ich proaktiv, was reaktiv und was passiv? Welche problemfokussierten und emotionsfokussierten Strategien kenne ich und wende sie an? Sind bei sozial interaktiven Strategien alle “Partner” über ihre Aufgaben informiert? Welche Strategien haben andere Stressoren nach sich gezogen? Welche hingegen funktionierten, aber kamen nicht wieder in Anwendung und warum? Coping und Resilienz sind also nicht nur psychologisierte Füllwörter, sondern vielleicht Begrifflichkeiten, die helfen können, sich sein Verhalten deutlich bewusster werden zu lassen, um sich besser gegen Belastung und eben den vielbeschworenen Stress zu schützen.


Bitte beachtet auch meine Schwerpunktseite: www.musikerberatung-frieling.de.

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