Burnout oder das Ende der Selbstliebe

Burnout – wir hören es, und wir sagen es. Bezogen auf unseren Beruf, auf unsere Beziehung, auf unser Leben. Immer wieder hören wir von Menschen, die Karrieren ab-, aus gewohnten Strukturen aus- oder komplett zusammenbrechen. Wir hören von schweren Depressionen, Kopfschmerzen, völliger Erschöpfung und Suizidgedanken. Und doch umweht der Begriff Burnout immer auch ein Hauch von Luxusproblem (“Hach, mir ist heute nicht so…”) und Modetrend (“Oh, wie schick, hab ich auch…”). Doch ist der Burnout eine Erkrankung, eine Erschöpfung, eine Depression? Oder ist es “nur” eine zivilisatorische “Errungenschaft” einer dekadenten Luxusgesellschaft?

Die “Entdeckung” des Burnouts

Laut statista haben sich seit dem Jahre 2000 die Krankheitstage aufgrund von Burnout und Depression verdoppelt, und seit 2010 das attestierte Burnout-Syndrom gar vervierfacht. Bis zu 8 % der Beschäftigten in sozial interaktiven Berufen sind davon betroffen, die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich um ein Vielfaches darüber. Es scheint also etwas dran zu sein am Burnout-Syndrom.

Im Pschyrembel, dem Begriffslexikon der Psychiatrie, der Klinischen Psychologie und der Psychotherapie wird das Burnout-Syndrom wie folgt beschrieben: “Klinische Bezeichnung für Zustand emotionaler Erschöpfung im beruflichen Zusammenhang.” Weiter heißt es bei den Symptomen: “Depression oder Aggressivität, erhöhtes Suchtrisiko, Kopfschmerz u. a. Schmerzsyndrome, generalisierte Angst, reduzierte Leistungsfähigkeit u. evtl. Depersonalisierung. Endzustand eines Prozesses von idealistischer Begeisterung über Desillusionierung, Frustration, Apathie u. Zynismus. Gefühl, der beruflichen Aufgabe nicht mehr gewachsen zu sein.”

Schon in den 60er und 70er Jahren wurde in Pflegeberufen beobachtet, dass es bei einigen Angestellten nach Jahren hervorragender Arbeit zu einem seltsamen Abfall ihrer Leistungen kam. Und zwar nicht nur durch ihre zunehmende Müdigkeit, Schlappheit und Unkonzentriertheit, sondern auch durch ihre sich immer mehr vergrößernde psychische Distanz durch Ironie und Zynismus. Ihr Ehrgeiz und ihr einst so gelobtes ‘Helfenwollen’ schien in Luft aufgelöst zu sein.

Die Sozialpsychologin Christina Maslach beschrieb drei Dimensionen. Nach den beiden oben genannten Phänomenen (1. Erschöpfung, 2. Zynismus) zählt sie noch als 3. das Gefühl des Sinnlosen, also der Wirkungslosigkeit hinzu. Und hier liegt ein sehr wichtiger Hinweis des Entstehens – die Selbstwirksamkeitserwartung.

Was erwarte ich von mir, was erwarten andere?

Menschen haben eine mehr oder wenig konkrete Vorstellung davon, was sie Kraft ihrer erlernten oder angeborenen Fähigkeiten, nennen wir es mal Kompetenzen, in Extremsituation zu leisten vermögen. Beispielsweise können wir uns als gesunde Erwachsene mit einer leidlichen Bewegungsaffinität durchaus zutrauen, einen kleinen Bach zu überspringen, unsere Fenster selber zu putzen und nach Abfahrt des Zuges noch schnell auf den Perron zu springen (gut, das war wieder mal ein Beispiel aus meiner Jugend…).

Weiterhin geht es darum, durch diese Kompetenz bei anderen etwas zu erreichen und sich selbst dadurch etwas Gutes zu tun. Doch betrachten wir die enge Verflechtung aus Selbstwirksamkeitserwartung mit dem sich aus Dankbarkeit und Zutrauen gespeisten Selbstwert an einem Beispiel:

Wir stehen an der Straße und sehen Anna Schuster, eine gehbehinderte ältere Dame. Wir gehen zu ihr und fragen sie, ob wir ihr über die vielbefahrene Straße helfen dürfen. Gerne nimmt sie das Angebot an. Wir führen sie sicher darüber. Sie ist dankbar, wir fühlen uns gut.

  1. Wir trauen uns etwas zu, weil wir unserem Körper vertrauen, sowohl allein schadlos über die Straße zu gehen als auch die Verantwortung für eine andere Person zu übernehmen. Gleichzeitig trauen wir uns zu, unsere Hilfe so anzubieten, dass sie gerne angenommen wird.
  2. Dieses Zutrauen führt in uns auch zur Überwindung, oder anders gesagt, zu dem Mut, alles in die Tat umzusetzen. Was ist unser Lohn? Dankbarkeit, aber auch das überlegene Gefühl unserer Unversehrtheit gegenüber ihrer Gebrechlichkeit.
  3. Dankbar wird diese Hilfe angenommen. Anna Schuster vermittelt mir dadurch einen hohen Fremdwert (sie findet mich großartig, hilfsbereit und nett), was mich motiviert und meinen Selbstwert hebt (ich finde mich jetzt auch besser…). Ihre Dankbarkeit, aber auch ihr Zutrauen in meine Kompetenz gibt mir Energie.
  4. Nach der erfolgreichen Straßenüberquerung zeigt Anna Schuster erneut Dankbarkeit. Dadurch wird meine Selbstwirksamkeitserwartung positiv verstärkt “Ich glaube an mich!” Meine eigene Erwartung wurde voll erfüllt.

An diesem sehr einfachen Beispiel sehen wir aber auch, dass es ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Geben und Nehmen gibt. Also kurz gesagt: Ich kann nur helfen, wenn sie sich helfen lässt; ich kann mich nur gut fühlen, wenn sie sich als dankbar erweist.

Wir sehen, wie eigene Erwartungen an Dank, an sich und an seine Leistungsfähigkeit schnell auch in Abhängigkeit von Selbstwirksamkeit umschlagen kann. Die Selbstwirksamkeitserwartung impliziert die Annahme, dass man etwas gezielt durch die eigene Kompetenz verändern könne. Eine andauernde Frustration dieser Annahme wäre demzufolge nachhaltig hemmend. Von einer bloßen Annahme bis hin zu einem Kontrollzwang ist es weniger weit als man oft denkt. Je größer der Glauben an sich selbst und seine Selbstwirksamkeit ist, desto länger kann man Misserfolge und Zurücksetzungen erdulden, aber alles ist endlich. Und ist dieses Ende erreicht, ist also die Energie aufgebraucht, ist man wirklich kaputt und leer. Man ist völlig erschöpft.

Die Entstehung eines Burnouts

An unserem Beispiel, und sei es auch noch so einfach, können wir aber auch die Keimzelle eines Burnout-Syndroms konstruieren. Wir verändern nur die Reaktion der älteren Dame:

Wir sind also motiviert, voller Selbstvertrauen und gehen auf die alte Dame zu. “Nee, lassen sie mich in Ruhe, das ist ja eine Frechheit, ich kann alleine laufen!”, wäre eine sehr frustrane Antwort. Der Selbstwert bekommt den ersten Dämpfer. Aber gut, die Dame wackelt los, und ich sehe klar, dass das nichts wird. Ich nehme entschlossen ihren Arm, höre nicht auf ihr Gebrabbel und führe sie sicher über die Straße. Dort angekommen wendet sie sich abrupt ab und hinkt von dannen, ohne mir mit einem Blick oder Wort gedankt zu haben. Ein zweiter frustraner Moment, denn ich habe doch bewiesen, ihr geholfen zu haben, und diese Hilfe war notwendig.

Skaliert man nun solche Erlebnisse der Enttäuschung oder allgemeiner gesagt, der Imbalance zwischen Selbst- und Fremdbild, kann es zu den ersten resignativen Reaktionen kommen: “Ja, dann eben nicht, gehen sie doch alleine, wenn sie so gut laufen können.” Oder ich sehe eine gehbehinderte Person, winke nur ab und beachte sie nicht weiter.

Das ist noch kein Burnout-Syndrom, aber vielleicht ein Baustein für dessen Entstehung. Betrachten wir nun nochmal die drei Bausteine des Burnout-Syndroms hinsichtlich ihrer Entstehung an einem Beispiel:

  1. Erschöpfung

Durch Erziehung und Umwelt werden uns Menschen moralische und ethische Glaubenssätze vermittelt, die wir mehr oder weniger reflektierend internalisieren, also unbewusst befolgen. Konzentrieren sich diese beispielsweise stark auf Nächstenliebe, Demut und soziale Gemeinschaft, ist es wahrscheinlich, dass so jemand einen pflegenden Beruf ergreift. Mit Begeisterung, Verve und hohen ethischen Werten “stürzt” er sich in die Arbeit. Sein Anspruch an seine Selbstwirksamkeit ist hoch, denn nur über den helfenden Erfolg kann er seinen eigenen Wert erhöhen. Er ist also abhängig von seinem Erfolg in Hilfe und Nächstenliebe. Und wie in einem geschlossenem System muss eine Homöodynamik (oder Homöostase, also Gleichgewicht) zwischen seiner gegebenen Energie und der erhaltenen Energie herrschen, ansonsten geht etwas schief.

Die permanente Bereitschaft, für andere da zu sein, erfordert aber sehr viel Energie, die wiederum ausschließlich durch die Selbstwirksamkeit, also etwas positiv verändert zu haben und durch die Dankbarkeit, also dem sehr positiven Fremdwert aufgefüllt werden kann. Geschieht das auf Dauer nicht, versiegt der Elan. Der Energiemangel verkörpert sich bspw.  in Müdigkeit, Fatigue und andauernde Erschöpfung.

  1. Zynismus

Der Zynismus ist die Karikatur der Ironie. Denn der Humor einer ironischen Bemerkung, also einer kleinen Überspitzung oder Übertreibung erleichtert Manches und kann eine gutgemeinte Kritik enthalten. Der sarkastische Humor eines Zynikers hingegen enthält meistens nur noch ein vernichtendes Urteil eines Besserwissenden, der aber nichts mehr ändern will und kann. Doch gucken wir mal genauer hin.

In unserem Beispiel sieht der Pfleger tagtäglich das Leid und das Gebrechen der Menschen. Nach und nach durchdringt ihn die Erkenntnis, dass dieses Helfen eher einer sisyphoshaften Beschäftigung als einer durch ihn möglichen Änderung der Realität gleicht, sprich: Er glaubt nicht mehr daran, etwas ändern zu können, er glaubt nicht mehr an seine Selbstwirksamkeit. Doch das ist eine existenzielle Bedrohung, der er durch die Benennung derselben standzuhalten versucht. Die vermeintliche Sinnlosigkeit wird erkannt und benannt. Durch die Zynik zieht sich der Pfleger auf die Kompetenz des Erkennens zurück, seinen Glauben an seine Kompetenz des Veränderns hat er aufgegeben. Das Problem hierbei ist aber, dass er seine eigenen Glaubenssätze verurteilt, ohne sie jedoch zu hinterfragen. Dabei stellt er nicht nur seine momentane Selbstwirksamkeit infrage, sondern auch alle seine bisherigen Erfolge, seine Arbeit und seine Motivation.

  1. Sinnleere

Der müde und abgespannte Pfleger kommt nun in die Klinik. Ein Notfall kündigt sich an. Er schleppt sich mit großer Anstrengung in die Notaufnahme und sieht, dass es hier um Leben und Tod geht. Wieder mal ein Mopedfahrer, der sich überschätzte. Und wieder mal ein Menschenleben, welches er nicht retten können wird. Es ist alles so sinnlos. Rettet er ihn, wird der nächste sterben. Egal was er macht, sterben werden sie alle. Die Gewissheit seiner Wirkungslosigkeit hat ihn so durchdrungen, dass er keinen Ausweg mehr sieht. Denn es ist nicht nur das Problem, dass er selbst wirkungslos bleibt, sondern dass sich alles als wirkungslos erweist. Der ihn ergreifende existenzialistische Fatalismus verhindert jegliche Zuflüsse von Energie, Motivation, Glück etc. Der Lebenssinn scheint verloren.

Körperliche Alarmzeichen

Unser Körper zeigt uns beständig an, was er möchte, wie es ihm geht und was er vermeiden will. Doch diese Anzeichen zu lesen und auf körperliche Reaktionen zu hören, kann einige Schwierigkeiten mit sich bringen. Und je altruistischer man ist, desto höher ist die Gefahr, die Zeichen eigener Befindlichkeiten zu ignorieren oder geringzuschätzen.

In unserem Beispiel kommt es zu vermehrten Schlafstörungen, denen unser Pfleger rauchend auf dem Balkon begegnet. Dann wieder fällt es ihm unglaublich schwer, früh aus dem Bett zu kommen, der Kaffee am Morgen wird schwärzer, das Rauchintervall kürzer. Während er arbeitet, hat er immer öfter brüllende Kopfschmerzen. Die Arbeit macht keinen Spaß, jeder Gang und jede Bewegung fallen ihm schwer und schwerer. Seine Arbeitskollegen gehen ihm auf den Geist, die Patienten nerven, und allein schon das Gebäude von außen lässt ihn förmlich zusammensacken.

Doch alle diese beschriebenen Symptome und Auswirkungen sind ihm nicht oder nur teilweise bewusst: Kopfschmerzen hat er, weil er schlecht geschlafen hat, Schwester Hildegard nervt, weil sie eine furchtbare Stimme hat, der Patient Alexander ist doof, weil er alles falsch macht, die Chefin ist anstrengend, weil sie immer nur fordert und die Klinik ist furchtbar, weil sie hässlich und dreckig ist… So oder so ähnlich lauten viele Begründungen. Und doch sind es nur Schutzbehauptungen für die eigene innere Leere, die man oft nur ahnt, aber nicht wahrhaben will. Denn diese Leere macht Angst, existenzielle Angst, den Sinn des Lebens verloren zu haben. Und ja, man hat ihn verloren.

Die Phasen der Entstehung

Schon in den 70er Jahren hat ein Kreis um den Psychologen und Psychoanalytiker Herbert Freudenberger die Problematik des Burnout-Syndroms erkannt. Seitdem wird über die Entstehung und den Verlauf sehr viel geforscht. Hier möchte ich 12 Phasen beschreiben, deren zeitliche Abfolge sich aber unterscheiden kann:

  1. großer Selbstwirksamkeitswille (Ich zeige dir, was ich kann und wie wichtig ich für andere bin.)
  2. hohe Selbsterwartung (Ich kann das noch besser, ich beweise es mir und den anderen.)
  3. bewusste Arbeitssucht (Ich arbeite mehr als alle anderen, die Arbeit ist meine Berufung, das Helfen ist mein Leben.)
  4. professionelle Idealisierung (Mir geht es immer gleich gut, ich habe keine “Stimmungen” und Konflikte. Die Arbeit ist wichtiger als meine “Wehwehchen”.)
  5. Arbeit als Lebenszentrum (Hobbys brauchen nur Leute, die keine wirkliche Aufgabe haben. Meine Freunde sind meine Kollegen. Ich helfe anderen, das muss reichen.)
  6. Negation von Problemen (Ich habe keine PROBLEME!!!!!! Das beständige “Mimimi” meiner Kollegen geht mir auf die Nerven, ich habe für Probleme einfach keine Zeit und kein Verständnis…)
  7. privater Rückzug (Wenn ich nicht arbeite, möchte ich alleine sein. Ich will dann wirklich keinen Menschen mehr sehen, irgendwann reicht es nämlich auch…)
  8. Gefühl der Wertlosigkeit (Mit mir kann man es ja machen. Ich weiß nicht, wie ich mich richtig verhalten soll. Ich meide lieber kommunikative Situationen. Es bringt meistens eh nichts…)
  9. Drohnen-Effekt (Ich fühle mich fremdgesteuert. Ich stehe früh auf, gehe zur Arbeit und komme abends wieder. Ich fühle nichts mehr dabei, höchstens Kopfschmerzen, das nervt…)
  10. Surrogat-Glück (Ich freue mich auf meinen Kaffee am Morgen und mein Bier am Abend. Und je später der Abend, desto besser geht es mir…)
  11. Erschöpfte Resignation (Ich kann nicht mehr, es ist alles so dermaßen anstrengend, dass ich nicht mehr hoch komme. Und es ist ja auch egal, ob ich hochkomme, wen interessiert das schon, mich jedenfalls nicht mehr…)
  12. Sinnleere und Suizidgedanken (Was soll das eigentlich alles noch. Mir tut alles weh, ich will keinen mehr sehen, ich bin völlig unnötig und habe keinerlei Motivation, irgendetwas zu tun. Das Gefühl der Gefühllosigkeit ist das einzige, was ich endlich beenden möchte, und wenn es mein Leben wäre…)

Fazit

Ein Burnout-Syndrom ist also kein kurzzeitiges Ergebnis frustraner Einzelsituationen, sondern ein komplexes Zusammenspiel andauernder Überlastungen und Überforderungen seiner selbst. Zum einen ist es der hohe Anspruch, nach außen zu wirken, zum anderen das Unvermögen, nach innen zu lauschen. Oft ist ein Burnout-Syndrom das Ergebnis jahrelang fehlender Reflexion und Eigenliebe. Die Wünsche des Inneren Kindes werden missachtet und geringgeschätzt. Man behandelt sich so, wie man andere nicht behandeln würde. Man liebt sich nicht um seiner Selbst willen, sondern nur bei erfolgreicher Leistung, deren Erwartungen beständig nach oben geschraubt werden. Die Strafe beim eigenen Versagen dieser erwarteten Leistung ist rigide – Liebesentzug und Missachtung der Bedürfnisse.

Das Burnout-Syndrom ist also kein Modetrend oder eine Ausrede für Unlust und Unfähigkeit. Es ist eine sehr ernstzunehmende tiefe seelische Not, die einen langen Entwicklungsweg der Entstehung ging und demzufolge auch einen sehr langen Genesungsweg braucht. Daher sollte man den Begriff nicht inflationär gebrauchen, weil man dadurch die wirkliche Tragweite dieser Erkrankung verharmlost.


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